Emily

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Das Universum ist manchmal echt schräg. Man wird immer wieder von ihm überrascht, wenn man es am wenigstens erwartet. Es passiert zwar nur ein paar Mal pro Generation, aber manchmal erkennt man ganz klar die Pläne des Universums. Das heißt allerdings nicht, dass man diese Pläne auch versteht.

So begann das Schicksal von uns innerhalb von 1 Woche, genauso wie unser Schicksal endet. Brandon zum Beispiel ignorierte am Dienstag die rote Ampel, wurde von einem Auto angefahren und kam ins Krankenhaus. Clara wurde am Mittwoch ein Opfer von Cyber-Mobbing. Sie wurde auf Facebook als „fette Schlampe" bezeichnet und beschloss, eine Diät zu machen. Jenny nahm all ihren Mut zusammen und ging am Freitag zum Friseur, um sich die Haare kurz zu schneiden. Aubrey überrollte eine starke Welle der Depressivität an dem Samstag, die anhält und ich hatte einen unglaublich grausamen Wutausbruch am Sonntagnachmittag. Diese Schicksale veränderten unser Leben ganz allmählich. Nicht immer bekamen wir davon etwas mit, aber innerhalb von 7 Monaten veränderte sich unser Leben.

Brandon hatte es am schlimmsten getroffen. Er war fast 2 Wochen im Krankenhaus und war durch den Unfall an einen Rollstuhl gefesselt. Er versuchte es so gelassen wie möglich zu sehen, doch wir alle wussten, dass es ihm mit seinem neuen Leben schwer fiel. Wenn man ihn an einem Moment ansah, wo er sich unbeobachtet fühlte, sah man die Verzweiflung in seinen braunen Augen und wie er sehnsuchtsvoll in die Ferne schaute.

Jenny's Leben veränderte sich auch schlagartig. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, als sie mich am Montag begrüßte. Ihre blonden Haare waren so lang wie die eines Jungen, und sie kleidete sich auch nicht mehr so feminin wie am Freitag zuvor. Sie trug jetzt Shorts und Sweatshirts, was sie bis jetzt noch nie getan hatte. »Wie gefällt dir mein neuer Look, Emily?« fragte sie mich lächelnd, doch ich sah ihre Angst in ihren blauen Augen. Die Angst, dass ich sie verrate, dass sie sich im falschen Körper gefangen fühlt. Sie verriet mir das schon an ihrem 13. Geburtstag. Ich war der einzige Gast bei ihrer Geburtstagsfeier, da ich ihre beste Freundin bin und sie auch nur 1 Person einladen durfte. Sie hatte es mir abends, als wir beide im Bett lagen, erzählt. Aus heiterem Himmel. Ich war etwas überrascht, da sie das durchschnittliche Mädchen verkörperte. Ich fand es da schon nicht schlimm und meine Meinung änderte sich auch nicht. Wir verloren nur selten ein Wort darüber und nur ich, Audrey, Clara und Brandon wussten davon. Sie wollte nun von allen nun nur noch Jamie genannt werden. Er versuchte sein Gesicht markanter und männlicher zu schminken. Er hatte schon von Natur aus eine sehr tiefe Stimme, deshalb musste er sie nur etwas anders klingen lassen um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er kriegte das echt gut hin, muss ich sagen.

Aubrey's Erscheinungsbild änderte sich nur langsam. Sie fing an, mehr schwarz zu tragen und ihren Eyeliner etwas dicker aufzutragen, bis sie sich schließlich ihre sonst braunen Haare schwarz färbte und sie sich nur noch in dunklen Farben blicken ließ. Außerdem setzte sie immer einen wehmütigen die-welt-ist-so-böse-Blick auf. Sie kassierte natürlich durch ihr Klischeehaftes Aussehen Hänseleien ein und sie wurde von allen nur noch Emo genannt. Ihr selber machte das nichts aus, da ja sowieso »alles scheiße« wär. Während sie vorher noch ein recht fröhliches Mädchen gewesen war, lächelte sie jetzt kaum noch und man sah sie eigentlich nur mit tränenverschmierten schwarzem Eyeliner herumschlurfen. Ich machte mir nichts daraus, da jeder machen soll, was er will.

Bei Clara bemerkte man fast keine Veränderung, außer dass sie jetzt nur noch Salat zum Essen in die Schule nahm. Aber sie hatte schon immer mal solche Phasen gehabt, wo sie sich etwas in den Kopf setzt und das toll findet, bis sieschließlich die Lust verliert und sich etwas anderen widmet. Damals wussten wir aber noch nicht, dass sie auf Facebook gemobbt wurde. Wir alle hatten kein Facebook, oder wir nutzten es zumindest nicht regelmäßig. Doch irgendwann wurde der Salat in der Lunchbox immer weniger und weniger, bis nur noch ein Salatblatt blieb, an dem sie verstohlen knabberte und es nach ein paar abgeknabberten Spitzen des Salats wieder zurück in die Box legte und ihn keines Blickes mehr würdigte. Da fingen wir uns schon an, Sorgen zu machen. Ich sprach sie mal darauf an, doch sie sagte nur: »Emily, lass mich mein Ding machen.«. Diese Reaktion überraschte mich nicht sonderlich, da Clara schon immer sehr schnippisch reagieren konnte.

Und als letztes zu mir. Der Wutausbruch am Sonntag kam überraschend. Gerade noch puzzelte ich mit meiner kleinen Schwester und schon zerriss ich ihr Lieblingsbuch, da sie etwas unüberlegt gesagt hatte. Ich hatte mich noch nie so in Rage gesehen, wie in diesem Moment. Ich war nicht ich selbst, sondern ein zerstörungswütiges Kind. Mom und Dad waren genauso überrascht und verärgert über den Ausbruch wie ich. Ich kassierte Hausarrest und musste das Buch von Lily neu beschaffen. Lily hegte nun ein tiefes Misstrauen mir gegenüber und brachte ihre Sachen immer in Sicherheit, wenn ich kam. Ich entschuldigte mich mehrmals bei ihr, doch sie starrte mich nur ausdruckslos an und schob mich zur Seite. Das tat mehr weh als die Strafe meiner Eltern, da ich Lily liebte wie nichts anderes.

Ich wusste noch nicht, dass dies erst der Anfang ist und alles noch schlimmer wird. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich Brandon vor der Ampel warnen, Aubrey mit ihren Problemen zur Seite stehen, Clara's Facebookaccount löschen, James versichern, dass sein Geheimnis bei uns sicher ist und er bei mir wohnen kann, wenn er will und ich würde mich besinnen, bevor ich Lily's Buch in die Hand nehme. Doch leider kann ich das nicht...


Happy EndWhere stories live. Discover now