2. Kapitel

1.1K 17 9
                                    

Polarstern: So gehen wir gemeinsam über den Hof. Sternenklarer Himmel ist heute. Und ein Stern fällt mir besonders gut auf. Er leuchtet heller als alle anderen und schimmert in einem Hauch blau. Was das wohl für ein Stern sein mag? Ich bleibe kurz stehen um ihn weiterhin anzusehen und zu überlegen. Da fällt er mir auch wieder ein. Polarstern. Genau, es ist der Polarstern. „Wo bleibst du denn Tara?“, ruft mir mein Vater zu. „Ich komme ja schon!“, antworte ich genauso laut. Ich laufe zu ihm hin. Das letzte Stück zum Stall gehen wir gemeinsam. Dort schaltet mein Vater das zusätzliche Licht ein. „Würdest du alleine gehen mein Liebling? Ich muss noch etwas erledigen“, meint mein Vater. „Ja klar“, erwidere ich mit Vorfreude. So geht mein Vater wieder geradewegs in unser Haus. Ich drehe mich zu den Kühen um ihnen einen guten Morgen zu wünschen und schmeiße jedem eine Möhre in den Futtertrog. Eine halte ich noch in der Hand um sie unserem „Neuen“ zu geben. Ich gehe den Stallgang immer weiter. Vierte Box, siebente Box, neunte Box. Immer noch war kein Hengst zu sehen. Da höre ich ganz unerwartet ein Wiehern. Es kann nicht mehr weit sein. Noch fünf Boxen bis das Stallgebäude endet. In der letzten Box, wo wie eigentlich immer Heu lagern, bewegt sich etwas. Ich gehe näher ran. Da steht er vor mir. Ein wunderschönes Lebewesen. Er hat dunkelbraunes Fell, eine schwarze Mähne und einen schwarzen Schweif. Aufmerksam richtet er seinen Kopf auf um sich zu erkundigen wer da vor ihm steht. Ich blicke direkt in seine Augen. In seine wundervollen hellblau glänzenden Augen. Vorsichtig halte ich ihm meine flache Hand hin, damit er sie beschnuppern kann. Ich muss lächeln als er meine Hand abschleckt. Da frage ich mich wie er wohl heißen mag? Nirgends kann ich einen Hinweis auf seinen Namen entdecken. Ich öffne die Boxen Tür und werde sogleich herzlich begrüßt. Neugierig steckt er seine Nüstern in meine linke Jackentasche, wo ich die Möhre aufbewahrt hatte. Schon hat er sie in seinem Maul. Sanft streiche ich ihm über seine Stirn. Launisch wiehert er und schüttelt seine Mähne. Ich verlasse die Box und hole mir einen Striegel, den wir normalerweise für die Kühe benutzen. Gleich darauf betrete ich sie wieder. Ich setze mich auf den mit Stroh ausgelegten Boden und mache es mir gemütlich. Der Hengst macht eine Geste sich hinzulegen. So tut er das auch. Ich rücke näher an ihn heran. „Hey mein Hübscher“, höre ich mich sagen. Wie wenn er antworten würde schnaubt er zufrieden. Ich fange an ihn zu putzen. „Kann dir etwas erzählen Großer?“ Er nickt bestätigend. „Meine Mutter ist heute gestorben.“ Ich fang an zu weinen. Tröstend legt der Hengst seinen Kopf auf meine Beine. „Ich bin aufgewacht um zirka dreiviertel drei und in die Küche gegangen um mir mein Frühstück zu machen. Da kam plötzlich mein Vater hereingestürmt und hat mich an der Hand genommen. Zusammen sind wir ins Schlafzimmer gegangen und...“ Ich beginne zu schluchzen. „...Und da ist...sie einfach so dagelegen. Wie wenn sie schlafen würde. Aber mein Vater erklärte sie als tot. Ich verstand die Welt nicht mehr. Immerhin ist doch heute mein Geburtstag. Und ich liebe meine Mom doch so sehr. Warum ist sie überhaupt gestorben?! Kein Arzt hatte irgendetwas gesagt, sie hatte keine Beschwerden und trotzdem...“ Ich vergrabe mein Gesicht im weichen Fell des Hengstes. Mehrere Minuten heule ich vor mich hin. Im Moment gibt es nur mich und den Großen. „Weißt du...?“, fange ich schließlich wieder an. „Ich hab keine Ahnung wie lange ich das noch aushalten werde. Wie lange ich dem Druck Stand halten kann.“ Ermutigend stupst er mich am Kinn sodass ich ihm in seine funkelnden Augen sehen muss. „Ich bin so froh, dass du jetzt da bist.“ Ich umarme seinen kräftigen Hals und drücke ihm einen sanften Kuss auf die Stirn.Ich habe das Gefühl, dass er mich beschützen möchte. Dieser Gedanke macht mir Mut. „Wie ist eigentlich dein Name?“ Natürlich kann er mir keine Antwort geben, aber er ist ein Lebewesen wie ich. Warum sollte ich dann auch nicht mit ihm reden? Vielleicht kann er nicht reden, aber er kann zuhören. „Hast du überhaupt einen Namen?“ Er schüttelt so heftig den Kopf, dass seine Mähne nur so fliegt. „Also hast du gar keinen Namen... Hm... Was machen wir denn jetzt?“ Ich stehe auf und schaue erwartungsvoll durch das geöffnete Stallfenster. Danach in die Augen des Hengstes. Sie sehen aus wie der Polarstern den ich heute gesehen habe. Natürlich! Das mir das nicht früher eingefallen ist... „Wie gefällt dir denn Polarstern?“ Er steht auf und geht auf mich zu. Dann schleckt er mein ganzes Gesicht ab und wiehert einmal kräftig. Es scheint ihm zu gefallen. Ich muss lachen und nehme wieder den Striegel in die Hand, den ich vorhin achtlos fallen gelassen hatte. Nochmals putze ich den ganzen Körper des Tieres. Ich hole noch den Hufkratzer und putze seine Hufe gründlich. Noch ahnt er nicht was ich mit ihm vorhabe. Jedenfalls ist er nun sauber und hole das Halfter unserer alten Problemkuh. Ich hatte zwar für sie gekämpft doch schlussendlich starb sie an Kolik. Nun ist ihre Box leer und ihr Halfter übrig. Es hängt an der Boxen Tür der alten Kuh. Ich drücke es fest an mich und erinnere mich kurz an Zeit mit ihr zurück. Wie wir fangen gespielt haben um ihre Beinmuskulatur zu stärken. Wie ich Tag und Nacht bei ihr geschlafen habe um ihre Atmung stets zu überwachen. Aber ja... Das Wiehern von Polarstern reißt mich wieder zurück in die Realität. Ich gehe wieder zu ihm hinüber und streife ihm das Halfter über. Es hat genau die passende Größe. Ich hake noch den Strick ein und führe ihn aus der Box. Immer Körperkontakt haltend führe ich ihn aus dem Stall. Alle Kühe schauen ihm und mir nach. Das sieht, finde ich, lustig aus. Beim Vorbeigehen am Karottensack schnappe ich mir noch verstohlen zwei Karotten und beiße an einer davon kräftig ab.

Die andere stopfe ich in meine Jackentasche. Als wir den Stall verlassen lächelt uns schon die Sonne entgegen und ich schätze, dass es bereits fünf Uhr vorbei ist.  Auf dem zur Weide sehe ich einen Rettungswagen neben unserem Haus stehen. Irgendwie habe ich ganz vergessen, dass... Am liebsten würde ich mich selbst dafür Ohrfeigen. Wie konnte ich denn bloß vergessen, dass meine geliebte Mutter gestorben ist? In Gedanken verflogen binde ich Polarstern an einer dicken Eiche an. Besorgt blickt er mir nach als ich zu unserer Haustür laufe. Da höre ich wie mein Vater mit jemandem spricht. Ich bleibe vor der Türe stehen um ihn zu belauschen. Da die sie kein Glas hat wo er mich sehen könnte brauche ich mich weder zu ducken, noch zu verstecken. „...danke, dass sie meine Frau so schnell abholen konnten. Meine Tochter hätte sie sicher nicht noch einmal sehen wollen. Nach all dem was Lilian unserer Familie angetan hat...Wie froh bin ich das sie uns nichts mehr tun kann. Bringen Sie sie bitte weit weg“, kann ich meinen Vater sagen hören. „Ja gerne Herr Dearing“, kann ich eine fremde Stimme hören. Wahrscheinlich ein Sanitäter. „Oh das tut mir Leid für Sie“, meinte ein anderer. Ich hörte wie sich Schritte der Tür nähern. Ich laufe geschwind zu Polarstern, binde ihn los und tue so als ob ich gerade erst aus dem Stall gekommen wäre. „Auf Wiedersehen Herr Dearing. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.“ „Ebenfalls meine Herren“, erwidert mein Dad. Ich kann sehen wie die zwei Sanitäter eine Trage tragen. Ich kann mir ja vorstellen, dass darauf meine Mom liegt, also verdecke ich mit meiner Handfläche meine Augen und die des Pferdes. Natürlich weiß ein Tier nicht was genau da vor sich geht, aber ich möchte ihm diesen Anblick ersparen. Ich laufe voran geradewegs vom Hof und biege danach in einen schmalen Feldweg ein. Polarstern trabt mir brav hinterher. Zuerst nehme ich langsam die Hand von meinen Augen weg um nicht an das Gatter anzulaufen, danach die andere damit auch das Pferd sehen kann wo es sich befindet. Ich stehe genau vor dem Gatter. Während ich es öffne quietscht es ganz fürchterlich. Vorsichtig weicht der Hengst einen Schritt zurück. „Alles ist gut“, beruhige ich ihn und setze ein falsches Lächeln auf. Ich verriegle das Tor wieder. Wir schreiten nebeneinander bis zur Mitte der Weide und verharren dort für einen kurzen Moment. Danach hake ich den Strick an Polarsterns Halfter ab und lasse ihn frei umher laufen. Ich setze mich währenddessen in das grüne Gras. Toll sieht es aus wenn Polarstern so selbstvergessen galoppiert. Eine ganze Weile schaue ich ihm verträumt hinterher und ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Blutige WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt