Mondkind

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Für viele Menschen wäre es merkwürdig gewesen, nachts um halb drei wandern zu gehen.
Für viele Menschen wäre es ebenfalls merkwürdig gewesen, wenn sie sehen würden, wie alt das Kind war, das dies tat.
Für viele Menschen wäre es auch merkwürdig gewesen, dass das Kind ganz allein auf der Straße spazierte.

Doch es war nachts und die Dunkelheit verhüllte das kleine Mädchen vor den misstrauischen und abwertende Blicken anderer. Es stapfte barfuß an einem Feldweg entlang, einen kleinen Stoffhasen unter dem Arm. Das lange Nachthemd schleifte auf der Erde und wurde mit jedem Schritt dreckiger. Doch das störte sie nicht, sie hing nicht an ihm. Die kühle Nachtluft spielte mit ihrem Haar und ließ es wie einen Schleier hinter dem ihr herwehen, während sie so verträumt zum Himmel blickte. Hoch zum Mond und den vielen kleinen Sternen, die so unbekümmert vor sich hin zu strahlen schienen.
So weit entfernt von all dem Übel in dieser Welt, so weit weg von allem und jedem.

Der Mond stand voll und rund am Himmel, schien größer zu sein, als er jemals vorher war.
Es schien dem Mädchen, als könne sie nach ihm greifen, und doch war der Mond, ebenso wie die Sterne, weiter von der Erde weg, als sie ahnte.

Sie kletterte auf einen nahestehenden Baum. Er war hoch für einen Baum in einer Allee und hatte dennoch recht stabile Äste, auf denen das Mädchen sich ihren Weg nach oben bahnte. Die kleinen Füßchen taten ihr weh, vom vielen Laufen.
Immer höher bis auf den höchsten, für sie erreichbaren, Ast. Dort blieb sie sitzen und schaute in den klaren Himmel. Die Sehnsucht in ihr war so groß, dass sie am liebsten hinaufgeflogen wäre.
Nur, um all dies hier hinter sich zu lassen. Die Kinder, die sie in der Schule hänselten, weil sie lieber las, statt zu raufen, waren nur eine der Sachen, die sie nicht verstand.

Zu ihnen, den Gestirnen und dem Mond, zu gehen, denen sie sich doch verbundener fühlte, als mit jedem sonst.
Weg von allen Problemen, weg von all den Konflikten der Menschen, die zu dumm waren zu erkennen, dass man im Frieden viel weniger zu bedauern hatten als im Krieg. Doch sie wollten bedauern, hatte man das Gefühl.
Sie wollten all das, was das kleine Mädchen nicht kannte, nicht wollte, nicht verstand.
Die Welt drehte sich so schnell und gab ihr jeden Tag so viel mit auf den Weg, dass sie keine Zeit mehr hatte, überhaupt über alles nachzudenken, was sie denn nun eigentlich wusste. Denn nur nachts, wenn niemand sie störte, wenn niemand auf sie einredete, dann stand die Welt für sie still und sie konnte frei denken. Während die Sterne ihr Licht spendeten und der Mond auf sie herab lächelte.
Während alle in ihre Traumwelten flohen, floh sie in die Realität. In der sie dachte, in der sie Mensch war.
In der sie, mit ihrem jungen Alter, mehr verstand als sie wollte und als manch Erwachsener konnte.

Verträumt griff sie nach dem Mond, der trotz oder gerade wegen seiner Entfernung so wunderschön aussah. Die Sterne wie kleine Sommersprossen am Himmel, der Mond wie ein wachendes Auge.
Das auf sie achtete, wenn niemand sonst es tat.
Der sie sah, wenn niemand sonst hinblickte.

Das Mädchen stand auf. Entschlossen machte es zwei Schritte weiter. Näher zum Mond, näher zu den Sternen, näher zur Entfernung.
Und dann, in diesem unbeobachteten Moment, verlor sie den Halt und fiel. Fiel hinunter in die Welt der Wesen, die sie nicht verstand.

Nur das wachendes Auge am Himmel hatte sie gesehen.
Nur das wachendes Auge am Himmel hatte verstanden, wie viel dieses Kind verstanden hatte.

Anmerkung:
Man kann diese Kurzgeschichte interpretieren wie man will und ich hoffe, dass sie gefällt :3

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