Ein wundervoller Nachmittag

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Für Vi war es ein Tag wie jeder andere auch. Er saß auf einer Holzbank, welche irgendwann mal ahornrot gestrichen worden war. Doch die Farbe war schon alt und an vielen Orten abgeblättert. Was früher wohl mal ein kräftiges Ahornrot gewesen sein muss, war jetzt nur noch ein Hauch eines Rots, das eher an braun als an rot erinnerte. Einzig Vi's Wissen, dass es mal ahornrot gewesen sein muss, wie jede Bank in dieser kleinen Großstadt, deutete auf Ahornrot.
Die Bank befand sich auf dem ziemlich breiten Fußweg in einer Einkauspassage. Überall waren Menschen. Hinter ihm, das wusste er, weil er jeden Tag -und manchmal auch die Nacht - hier war, war ein Streifen Grün. Eine winzig kleine Wiese, eher zur Dekoration als zur Bepflanzung gedacht. Zwischendurch wurde es unterbrochen. Halbmeterbreite Pflastersteinwege erleichterten es den Menschen, von der Seite mit der Holzbank, auf welcher Vi sich befand, auf die andere Seite zu gehen. Dort ging der Bürgersteig weiter, mündete in weiteren Fußgängerzonen und wurde einzig unterbrochen durch die schier unendlichen Läden, den Ständen und den grauenhaft vielen Menschen. Zu seiner Rechten hatte Vi eine Bushaltestelle und vor sich eine stark befahrene Straße. Hier, wo so viele Menschen waren, hatte er oft mehr Erfolg als sonstwo. Doch auch hier beachtete ihn nur selten jemand.
Vi hatte Hunger. Doch noch viel mehr hatte er Durst. Ihm war zwar kalt, aber im Vergleich zu seinem Durst war das zweit- wenn nicht sogar drittrangig.
Er hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal sauberes Wasser getrunken hatte.
Mit einem traurigen Blick schaute er die Menschen vor sich, neben sich und manchmal auch hinter sich an. Manche schienen ihn nicht zu bemerken, andere nicht zu beachten und wieder andere nicht zu glauben. Das war ein reiches Land, er musste ein Lügner sein. Das dachten sie, und er sah es in ihren Augen. Sie wollten es ihn wissen lassen.
Er war traurig.
Und durstig.
Aber das Schlimmste, das, was ihn immer mitnahm: Er war allein. Und so furchtbar einsam.
Dann kam er. Er schien bemerkt zu haben, dass Vi so furchtbar einsam war. Bei seinem Anblick begann er zu weinen. Vor lauter Mitleid, Liebe und Fürsorge begann er zu weinen. Und wollte gar nicht mehr aufhören. Vi verstand die Geste. Und war zum ersten Mal seit langem woeder glücklich. Er blickte vor sich, zu ihm auf, öffnete den Mund und nahm gierig von seinen Tränen, so viel er nur konnte. Er beachtete die Blicke der Menschen nicht. Viele sahen ihn belustigt an. 'Wie kann er nur diese furchtbaren Tränen trinken?', hörte er die Leute um sich murmeln. Sie würden ihn nie verstehen. Es war ihm auch egal. Er verstand ihn, und das reichte ihm. Er weinte und weinte und weinte. Er wollte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Vis Kleidung wurde durchnässt, seine Haare wurden gewaschen und er weinte noch immer. Nur er kümmerte sich so sehr um Vi. Vi liebte ihn.
Ein kleines Mädchen wurde auf Vi aufmerksam. Ihr tat das ganze furchtbar leid und sie fand es komisch, dass Vi Tränen trank, also nahm sie ihrer Mutter die Wasserflasche aus der Hand und legte sie neben Vi auf die Bank. Das war Vi herzlich egal. Solange er ihn hatte, konnte er für kurze Zeit alle seine Sorgen vergessen. Als Vi rundum glücklich und zufrieden war, hörte er auf zu weinen. Vi streckte sich auf der Bank aus und verfiel in einen glücklichen Schlummer.

Seine TränenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt