Es war Wochenende. Die Zeit, die Vi am meisten und zeitgleich am wenigsten liebte. Sie saß an ihrem Schreibtisch, welcher direkt vor ihrem Fenster stand. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Heft mit halb gelösten Mathe-Aufgaben, an welchen sie sich gerade zu schaffen machte. Dabei fiel ihr wieder ein, wie die Schüler sich am Freitag über sie lustig gemacht hatten. Die letzte Stunde war Mathe gewesen, früher mal ihr absolutes Lieblingsfach. Seitdem sie jedoch irgendwie zum Zielobjekt der Belustigung ihrer Mitschüler geworden war, gab es kein Fach mehr, welches sie mochte. Höchstens vielleicht Kunst, weil sie somit zumindest eine Ausrede hätte, warum sie andauernd neue Anspitzer brauchte. Sie seufzte, als sie aus dem Fenster hinausschaute.
Draußen erblickte sie eine Horde Jugendlicher, welche sich gegenseitig einen Ball zu kickten. Solch ein Anblick bot sich ihr vor allem samstags sehr häufig, zumal ihr Fenster dem Hinterhof gewidmet war und man so einen Ausblick auf den Bolzplatz genießen konnte.
Wäre der Hinterhof nicht andauernd von irgendwelchen Leuten besucht, morgens von jüngeren Kindern, nachmittags von Jugendlichen, nachts von Betrunkenen, wäre Vi sicherlich schon mal gesprungen. Sie stand schon oft kurz davor, wurde jedoch von den vorhandenen Menschen abgehalten. Zwar konnte sie selber schon lange nicht mehr, oder, wenn es ihr besonders gut ging, kaum noch das Leben aushalten, aber das war noch lange kein Grund für sie gewesen, andere Menschen dadurch leiden zu sehen, indem sie jemandem zusahen, wie er sich aus dem dreißigsten Stockwerk begab, um als Matsch vor ihnen zu landen. Nein, das wollte sie ihnen nicht antun, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht besser verdient hätten. Unter den Spielenden war nämlich beinahe immer einer ihrer Klassenkameraden, welcher ihr am meisten zusetzte.
Tränen bildeten sich in ihren Augen, und sie zwang sich, sich wieder ihren Mathe-Aufgaben zu widmen. Sie wollte den Spielenden nicht weiter zusehen, nicht, wenn sie sich dadurch wieder an Freitag erinnerte – oder an irgendeinen anderen Schultag, sie waren schließlich alle irgendwie gleich. Grausam, grauenvoll, schmerzhaft, nicht aushaltbar, einsam. Vor allem einsam. Sie klappte ihr Heft zu und schob es von sich weg. Mit zitternden Händen griff sie mit ihrer rechten Hand unter ihren Schreibtisch und holte eine kleine Mülltonne hervor. Dann öffnete sie die oberste Schublade links vom Schreibtisch und holte ihren neuen Anspitzer raus. Sie hatte ihn sich erst gestern gekauft.
Vorsichtig baute sie die Teile auseinander. Anschließend schmiss sie Alles weg, bis sie nur noch die Klinge des Anspitzers in den Händen hielt. Sie legte die Mülltonne wieder auf den Boden.
Ihre Eltern würden erst heute Abend wieder nach Hause kommen. Sie brauchte sich also keine Sorgen zu machen, von ihnen entdeckt zu werden. Sie wussten von ihrem kleinen Geheimnis nichts. Während Vi nun die Klinge betrachtete, fielen ihr eins nach dem anderen immer mehr Sachen ein, welche sie zum Weinen antrieben. Ihre schlechte Note in Mathe. Ihre unfreiwillig gemachten Fotos in der Sportumkleide. Das hämische Lachen der Klassenkameraden als sie sich im Unterricht meldete. Das Herumreichen der unfreiwillig gemachten Fotos. Das Fesseln ihrer Hände mit Tesa-Film. Der Zwang, den eine Gruppe von mindestens sechs Schülern auf sie ausübte, damit sie widerstandslos gewisse Begierden anderer befriedigen musste, während die ganze Prozedur gefilmt wurde. Ihr nie vorhandenes Taschengeld. „Warum hilft mir denn niemand?", schluchzte sie. Sie wollte nie sterben wollen, sie wollte nicht depressiv sein. Sie wollte ihr Leben nicht hassen. Aber niemand gab ihr Grund dazu, es nicht zu tun. Sie war eine bemitleidenswerte Kreatur. Und einsam. So furchtbar einsam.
Sie setzte die Klinge an. Sie wollte Blut sehen.
Das stimmte nicht ganz. Sie wollte ihr eigenes Blut nie sehen. Sie wollte sich nie ritzen. Sie musste es tun. Sie hatte keine Wahl. Es waren die einzigen Momente, wo ihre Sorge um sich selber ein wenig vergessen wurde. Wo nur das Blut auf ihren Armen zählte. Wo wenigstens ihre Arme ihren Schmerz nachvollziehen konnten, sodass sie für ein paar Sekunden nicht mehr so furchtbar einsam war. Sie hatte also die Klinge angesetzt, sie wollte schon anfangen. Doch dann, dann kam er. Er hatte sie wohl von Weitem gesehen, vielleicht hatte er es auch nicht, doch das zählte in dem Moment nicht. Fakt ist, er kam. Und er war seit jeher der Einzige gewesen, der sie verstand, der mit ihr fühlte. Als er sie sah, da füllten sich seine Augen mit Tränen. Kurz legte sie die Klinge ab, und fing an, ihn zu beobachten. Er begann zu weinen, erst ganz leicht, doch dann immer mehr, immer intensiver.
Er war immer draußen, nie in irgendeinem Haus. Vi fragte sich, ob er wohl irgendeine Heimat, irgendeinen Rückzugsort hatte. Sie schob ihren Schreibtisch zur Seite, stellte sich vors Fenster und öffnete eben dieses, nun wieder mit der noch nicht genutzten Klinge in der Hand.
Seine Tränen prasselten in ihr Zimmer, ihr ganzer Teppich wurde feucht. Im Augenblick jedoch war ihr das egal. Er weinte ihretwillen, seine Tränen galten nur ihr. Sie brauchte ihm nichts zu erzählen, er konnte ihre ganze Geschichte in ihren Augen ablesen. Je länger sie da stand, desto intensiver wurde seine Trauer. Irgendwann fing er sogar hörbar zu schniefen und zu schluchzen an. Sein Schluchzen war seit jeher schon immer besonders laut gewesen. Doch heute schniefte er auch extrem intensiv. So sehr, dass sie sich kurz erschrak und die Klinge fallen ließ. Sie fiel herunter, und noch bevor sie den Boden erreichen konnte, war sie aus ihrem Blickfeld verschwunden. Die Tränen von ihm reduzierten sich augenblicklich. Und dann verstand Vi. Er wollte nicht, dass sie sich verletzte. Er kümmerte sich um sie. Er sorgte sich. Trotz ihrer noch immer laufenden Tränen fing sie an, schwach zu lächeln. Sie beugte sich tief aus ihrem Fensterrahmen hervor, und zeigte mit dem rechten Daumen nach oben, um ihm zu zeigen, dass es ihr schon besser ging.
Er kam hin und wieder, um sich nach ihr zu erkundigen. Leider war er nicht immer da, doch die Momente, wo er da war, waren die Momente, wo sie sich am sichersten fühlte. Wo sie endlich mal weniger einsam und alleine war, wie es an diesem Samstag der Fall war.
Jetzt weinte er zwar weniger, dennoch hörte er aber nicht auf zu weinen. Vi schaute sich um. Der Innenhof war mittlerweile leergefegt. Die meisten hassten es, wenn er kam, und suchten sofort die Weite. Vi dachte kurz nach. In seinen Armen zu sterben klang für sie am Schönsten. Er würde es bestimmt verstehen. Er würde sich gut um sie kümmern. Sie sprang.
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Seine Tränen
Kısa HikayeWenn er weint, lieben ihn manche Menschen dafür, während bei den Anderen der Hass dominiert. Nur selten werden seine Tränen mit Gleichgültigkeit abgetan. Den Titel "Seine Tränen" verdanken wir @sara-chanx33 . (Früher hieß es "er weint".) Folgende In...