Samstagnachmittag

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Vi stand draußen mit seinen Freunden auf dem Bolzplatz. Zusammen kickten sie sich den Ball zu. Der Bolzplatz war alt und klein, und zusätzlich noch von jeder Menge Hochhäusern umgeben. „Aber immerhin besser als gar keiner", pflegte sein Vater ihm seit jeher zu sagen. Lustlos dribbelte er den Ball mitten durchs Feld bis zum Tor. Seine Freunde beneideten ihn für seine unglaublichen Dribbelkünste. Sie meinten, er würde es mal weit mit seinem Fußball bringen. Eigentlich war ihm Fußball aber ziemlich egal. Er spielte nur einfach mit, um irgendwie dazuzugehören. Und eventuell noch das Mädchen, auf das er stand, zu beeindrucken. Er wusste, dass sie in einem der Gebäudekomplexe hier lebte, als Kinder haben sie oft zusammen gespielt. Als er einen flüchtigen Blick auf ihr Fenster warf, sah er, dass das Licht in ihrem Zimmer brannte. Er sah ihren Wuschelkopf sich über irgendetwas auf ihrem Schreibtisch ausbreiten. In ihm entflammte sich ein Feuer. Auf einmal spielte er mit sehr viel mehr Enthusiasmus. Mit einer Leichtigkeit, wie man sie sonst nur selten sieht, stahl er seinem Gegenspieler, welcher sich den Ball vor Kurzem ergattert hatte, und dribbelte geradewegs auf Tor zu. Seine Freunde jubelten, und er wusste, er hatte nicht verfehlt. Triumphierend blickte er zu ihr hoch, doch sie sah ihn nicht. Sie schien wirklich mit ihrem Heft beschäftigt zu sein. Das war auch in der Schule immer so. Er versuchte, ihre Aufmerksamkeit durch alle sich erdenklichen Mittel für sich zu gewinnen, aber sie beachtete ihn einfach nie. Immer blickte sie auf irgendetwas hinab, um nicht ihn anzusehen. Er knurrte wütend. Seine Freunde fragten ihn verwundert, weswegen er sich denn aufrege, er habe schließlich gerade ein Tor geschossen.
Wie zur Rettung bemerkte er ihn, der ihm doch sonst so sehr verhasst war. Er erklärte seinen Freunden, dass er da war und sein Weinen nicht mehr lange andauern würde. Hektisch sammelten sich die Jugendlichen, nahmen ihre jeweils zur Seite geworfenen Jacken und Wasserflaschen, und beeilten sich, nach Hause zu kommen, bevor er näher kam. Auch Vi griff sich seine Jacke, zog sie sich schnell über und packte seine Plastikflasche in eine der Jackentaschen. Und dann fing er auch an zu weinen. Seine Tränen waren anfangs noch wenig und leicht, und somit schafften es alle, schnell nach Hause zu kommen, bevor das richtige Geheul losging. Vi hasste ihn. Er nahm ihm fast jeden Samstag die Möglichkeit, das Mädchen seiner Träume in Ruhe zu beobachten. Grimmig drückte er die in seiner Jackentasche steckende Wasserflasche mit aller Kraft zusammen, um ein wenig Wut auszulassen. Die Flasche gab mit einem lauten Knistern nach und verbog sich bis ins Unkenntliche. Das Knistern hallte im Treppenhaus wider. Vi tat das mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab, als sein Freund ihn fragend ansah. Seine Tränen nahmen zu. Er weinte unaufhörlich. Egal wie viel Aufmerksamkeit er erbat, Vi würde sie ihm nie geben. Vi hasste ihn. Er hasste ihn einfach. Nicht über alles, aber genug.

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