Ach scheisse, heute ist ja noch das Klassentreffen der Primarschule, das habe ich völlig vergessen... Zum Glück habe ich einen Reminder im Handy-Kalender, so habe ich gerade noch genug Zeit, schnell eine Dusche zu nehmen, mich fertig zu machen, und bin noch rechtzeitig im Lokal Famosa in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Es sind schon einige Leute da, ich erkenne aber nicht mehr alle. Eine Frau, deren Namen ich nicht mehr weiss, kommt auf mich zu, umarmt mich und sagt fröhlich: „Hallo Jacky, wie geht es dir denn so? Wir haben uns ja Jahre lang nicht mehr gesehen", ich antworte etwas verlegen: „Mir geht es gut, danke, dir? Tut mir leid, aber du scheinst dich sehr verändert zu haben, denn ich habe keine Ahnung wer du bist..." „Haha, ja, das ist auch kein Wunder, niemand hier wird mich wieder erkennen, ich bin jetzt Annalena, früher war ich Tom... Vor ein paar Jahren, nachdem ich schon eine Zeit lang als Drag Queen unterwegs war, habe ich gemerkt, dass ich eigentlich lieber weiblich wäre, habe mein ganzes Geld gespart, und mir schliesslich die Operationen geleistet." „Wow, das ist ja eine Neuigkeit, aber freut mich, dass du jetzt du selbst bist, und so sehr dazu stehen kannst", antworte ich. Dann entschuldigt sich Annalena aber auch schon wider und rennt auf jemanden zu, der gerade zur Tür hinein kommt und ruft laut „Oh mein Gott, Alex! Wie geht es dir?" Ich selbst bleibe angewurzelt stehen, denn Alex ist der Mann vom vergangenen Wochenende...
Sobald ich zur Tür des Famosas hinein gehe, kommt Annalena auf mich zugesprungen, ich weiss, dass ich der einzige bin, zu dem sie auch nach ihrer Geschlechtsumwandlung noch regelmässigen Kontakt hat, ich umarme sie herzlich, und sage ihr, dass ich stolz bin, dass sie diesen Schritt gewagt hat und hier aufgetaucht ist. Doch dann sehe ich SIE. Wieso ist SIE hier? Ich frage Annalena, wer die Frau im Hosenanzug ist und sie antwortet: „Das ist Jacky, kennst du sie nicht mehr?", „Nein, das hätte ich nie im Leben gedacht... Ich geh ihr mal Hallo sagen, bis später", „Okay, bis später", antwortet sie und geht zu einer Gruppe Leuten weiter. „Hallo Jacky... Ich hätte das nie erwartet, aber jetzt ist es so, und wir müssen damit klarkommen..." sage ich zu ihr, während ich sie rasch umarme. „Hallo. Ich freue mich natürlich dich wieder zu sehen, doch unter diesen Umständen ist es schon etwas unangenehm..." sagt sie, zwar ohne das „mein Herr", was aber auch besser ist, doch mit devot gesenktem Blick. Ich frage sie, ob wir kurz raus wollen eine Rauchen, doch sie findet, dass es besser wäre, erstmal den anderen Hallo zu sagen. Also gehen wir zur Gruppe um Annalena und begrüssen alle herzlich, erzählen wie es uns geht und was wir so machen, und hören uns die Kommentare und Ausführungen der anderen an. Dann wird der Apèro serviert und Alex und ich verziehen uns nach draussen. „Tja, auf eine Art bin ich über diese Überraschung ja erfreut, jetzt habe ich die Chancen dich wieder zu sehen, obwohl ich letzte Woche einfach abgehauen bin..." sage ich zu Jacky und sehe ihr dabei tief in die Augen, „Ja, wir sollten einfach das Beste draus machen, und vor allem: uns heute nichts anmerken lassen! Einige meiner alten Freundinnen wissen, dass ich damals immer verknallt in dich war...", sagt Jacky, während sie leicht errötet und den Blick senkt, ebenso errötend gestehe ich ihr, dass ich damals auch etwas für sie empfunden habe, und wir ja vielleicht jetzt noch eine zweite Chance bekommen, und dann küsse ich sie schnell, in der Hoffnung, dass das niemand sieht. „Danke, mein Herr", sagt sie lächelnd. Wir begeben uns zurück zu den anderen und nehmen ganz normal mit ihnen die Mahlzeit ein.
Da nach dem Essen sowieso ein allgemeiner Handynummern Austausch stattfindet, fällt es nicht auf, dass auch Alex und ich einander unsere Nummern geben. Bei der Verabschiedung stellt sich heraus, dass wir zwei die einzigen sind, die zum Bahnhof müssen, so dass wir beide alleine gehen können. Bevor wir uns dort dann mit einem leidenschaftlichen Kuss trennen, machen wir einen Termin für unser nächstes Treffen ab.
DU LIEST GERADE
Überraschung mit Folgen
Short StoryJacky und Alex, zwei Leute die sich nicht zu kennen scheinen, treffen sich im Ausgang. Doch wie es weiter geht hätte keiner von beiden sich vorzustellen gewagt.