Prolog

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Die Digitaluhr am Arm meines Sitznachbarn piepste zwei Mal. Es war gerade 16 Uhr und ich saß noch in der Bahn auf dem Weg nach Hause. Genervt von mir selbst, weil ich meine Kopfhörer vergessen hatte und dem Quietschen der Gleise ausgesetzt war. Im Kopf ging ich den Schultag noch einmal durch und versuchte das nervige Gequatsche der anderen Fahrgäste auszublenden. Eigentlich ein guter Tag. Stinknormal eben. Keine blöden Zwischenfälle, keine außergewöhnlichen Situationen, außer, dass ich im Erdkunde Leistungskurs bei der Furie eingeschlafen war und den europäischen Wirtschaftswandel verpasst hatte. Ziemlich normal. Ziemlich langweilig. Ziemlich unbefriedigend.

Ja, mein Leben hatte kaum etwas aufregenderes, als den Fakt, dass ich bald 18 war und endlich von zu Hause abhauen konnte. Nur wollte ich nicht abhauen, solange ich nicht mit der Schule fertig war. Das gäbe nur unnötige Komplikationen. Den Führerschein hatte ich schon inoffiziell. Ausgehändigt wurde er mir erst am 12. September, dem Tag meiner Geburt. Deshalb war ich immer noch auf das nervige Bahnfahren angewiesen. Vierzig Minuten morgens zur Schule, vierzig Minuten am Nachmittag zurück nach Hause. Jeden Tag. Immer zur selben Zeit. 6:30 Uhr ab, 7:10 an. Unterricht bis 14:45 Uhr, 45 Minuten um etwas zu Essen und zum Bahnhof zu kommen. Wobei, das Essen ließ ich getrost weg. Die 10€, die ich jede Woche von meiner Mutter bekam, investierte ich lieber in Zigaretten.

Die Sonnenstrahlen, die zwischen den zerrissenen Wolken und Hochhäusern immer mal wieder durch die Glasscheibe der S-Bahn durchschienen, wärmten meine Haut etwas. Nicht sehr, aber wir hatten auch erst April. Das kaum verständliche Gemurmel aus den Lautsprechern verriet mir, dass ich in zwei Stationen aussteigen müsste. Endlich. Ich kramte in der Tasche meiner gelben Regenjacke nach meinem Feuerzeug und meinen Zigaretten und wartete, bis die Bahn zwei Stationen später hielt und ich und 3 andere Leute aus dem Wagon über den Spalt zwischen ihm und dem Betonboden hüpften.

Es war windig, sodass die Wärme der Sonne kaum zu spüren war, also zog ich den Reißverschluss zu und zündete mir in der hohlen Hand eine Marlboro Gold an. Warum ich rauchte, wusste ich manchmal nicht mehr. Ich wusste nur, dass es mir hilft ab und zu den Kopf frei zu kriegen. Frei von all den schlechten Gedanken, den bösen Erinnerungen und Ängsten in meinem Kopf. Meine Eltern wussten das. Nicht das von den Ängsten, sondern vom Rauchen.

"Wir können es dir schlecht verbieten, dann würdest du es einfach heimlich tun. Aber begeistert bin ich davon trotzdem nicht." Sagte meine Mutter, als sie eine ihrer Zigarettenschachteln in meiner Jacke fand. "Und bitte klaue mir und Papa unsere Zigaretten nicht mehr. Wenn du rauchen willst, dann bezahle auch dafür." hatte sie gesagt und mir dir halb leere Schachtel zugeworfen. Und nun ja, so gesehen bezahlte ich sie ja jetzt selbst und verzichtete dafür auf das Essen. Und zwar seit ich mit 16 damit angefangen hatte.

Ich stand an der Ampel, die über die Hauptstraße führte. 'Verdammt.' dachte ich. Es fing an zu regnen und ich hatte keine Lust auf eine verschwendete Zigarette. Es wurde grün und ich sprintete über die Straße zu dem Bio-Supermarkt, unter dessen Vordach immer Holz, ein Obdachloser Typ namens Peter Klotz, saß.

"Hey Küken. Nett, dass du auch mal wieder vorbeischaust." sagte er. Holz war sehr beliebt bei den meisten Leuten in meinem Alter. Keine Ahnung, wieso und woher jeder ihn kannte. Er sagte immer, er habe einfach einen guten Draht zu jungen Leuten, weil er im Kopf noch genauso ist, was auch stimmte. Er sah allerdings schon ziemlich alt aus, mit seinen paar Haaren und schiefen Zähnen die er noch hatte. Als ich mal fragte, sagte mir Tim Gunt, ein kiffender Naturjunge aus meinem Jahrgang (Hippie könnte man ihn auch fast nennen), er sei erst Mitte dreißig. Wie dem auch sei, alle akzeptierten ihn und seine Art.

"Mistwetter." murmelte ich in meinen dünnen Schal und schnipste die Asche weg. "Das hält doch keiner aus, Holz. Und du sitzt hier und grinst durch die Gegend." sagte ich und sah ihn irritiert an. "Weißt du" setzte er an und knotete seine Schuhe zu. "In meiner Situation ist das egal und du nimmst es eben hin. Bin froh noch zu Leben."

"Hm." brummte ich, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nase aus.

"Gibst du mir eine Kippe und Feuer?"

"Ja, warte." Ich drückte meine aus, kramte wieder in meiner Regenjacke und hielt ihm die Schachtel und ein Feuerzeug hin. "Das Feuerzeug kannst du haben. Ich muss jetzt weiter, Holz. Halt die Ohren steif." Ich selbst nahm mir auch noch eine und ging.

"Mach langsam!" Rief er mir wie üblich hinterher. Keine Ahnung, was er damit meinte aber das sagte er immer zum Abschied.

"Bin da." rief ich im zweiten Stock in der Wohnung meiner Eltern, als ich zur Tür reinkam und die Nasse Jacke an die Garderobe hing. Aber es antwortete niemand. "Hallo?"

Ich zog die tropfenden Sneakers aus und lief in die Küche, ins Bad und ins Wohnzimmer. "Mama? Papa?" Keine Antwort.

Als ich in mein Zimmer ging und meine Tasche aufs Bett schmiss, fand ich eine Notiz auf dem Schreibtisch. In runden Druckbuchstaben, der unverkennbaren Handschrift einer Sekretärin, stand da:

Papa muss bis Montag arbeiten und

ich komme heute erst sehr spät. Im

Kühlschrank steht eine Lasagne und

                                                                 die Wäsche muss abgenommen werden.

x Mama

'Klasse!' dachte ich und zückte mein Handy, um mich endlich ins WLAN einzuloggen und Bunny, meine beste Freundin, anzurufen. Ich wählte ihr Nummer und ließ mich auf mein Bett fallen.

Tuuuut, tuuuut, tuuuut, tuuu-

"Hey Küken." sagte sie mit ihrer hellen, klaren, singenden Stimme.

"Bunny, ich hab heute Sturmfrei. Mama kommt erst spät." Jubelte ich "Hast du Zeit? Wie wär's mit einer Familienpizza und ein paar Filmen? Sie kommt erst um elf oder so zurück."

"Ääääh, warte mal kurz..." sagte sie und ich hörte im Hintergrund die mechanische Stimme des Fahrstuhls in ihrem Wohnhaus "Tür schließt" sagen. Also wartete ich.

Ich stand auf, ging zu meiner Kommode, auf der ein uraltes DDR-Radio meines Vaters stand, das ich anschaltete und nahm mir eine von den daneben stehenden Packungen Skittles.

Bunny wohnte in einem Viertel, dass mein Vater immer versuchte zu umfahren, wenn es irgendwo hin ging.

"Diese ganzen Schnösel da mit ihren BMW oder Mercedes Schlitten kotzen mich an. Die Fahren wie die Abdecker, Mara. Wenn du mal mit so einem nach Hause kommst, kannst du zu sehen, wo du bleibst." hatte er zu mir gesagt.

Etwa nach zwei Minuten meldete sich Bunny wieder.

"Ja kein Problem. Mein Vater bringt mich gleich rüber. Soll ich was mitbringen? Meine Mutter hat ihren tollen Erdbeerkuchen gemacht."

"Oh ich liebe deine Mama!" sagte ich euphorisch.

"Alles klar, bis später!" trällerte sie.

"Die Haustür unten ist offen." sagte ich noch und legte auf.

Unsere Wohnung war nichts besonderes. Eine 3-Raum Altbauwohnung am Rand von Berlin im 50er Jahre Stil. Die Wohnungstür war aber besonders, sie hatte noch so einen kleinen Schlitz für Briefe, wie in den älteren amerikanischen Filmen. Heute blieb sie allerdings unbenutzt, da der Vermieter unten hat normale Neubaubriefkästen anbauen lassen. Das letzte Mal wurde er von Bunny und mir benutzt, als wir noch klein waren und damit Zettel hin und her geschickt haben (nur sie vom Flur zu mir oder umgekehrt) oder sowas. Außerdem war die Tür groß und so schön verschnörkelt.

Als erstes kam man in einen langen Flur, der um die Ecke ging. Rechts stand die Garderobe und links ein alter Schrank für unsere Schuhe (mein früherer Lieblingsort zum verstecken). Dahinter kam links die Tür zur Küche, dahinter um die Ecke mein Zimmer und eine Besenkammer und rechts waren Badezimmer, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Das Badezimmer war fast größer als die Küche, weil meine Mutter darauf bestand eine Badewanne und eine Dusche zu haben, was sie in meinen Augen zur schlausten Frau der Welt machte.

Ich lief schnell rüber ins Wohnzimmer und zog das Sofa aus und legte ein paar Decken und Kissen hin, zündete Duftkerzen an und suchte unsere Karte für Luigi's Pizzeria, für den Fall, dass Bunny doch mal eine andere Sorte, als Hawaii haben wollte. 

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