Die Entschuldigung

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Alex Kampe war sich des flauen Gefühls in seinem Magen bewusst, das stärker wurde, je mehr er sich dem Haus näherte, in dem die Eltern seines besten Freundes wohnten. Das Gefühl, das Herr Marquard schon damals in ihm ausgelöst hatte, als er in der siebten Klasse das erste Mal Bas zu Hause besucht hatte, begleitete ihn auch heute wieder auf den letzten Metern zur Haustür des Einfamilienhauses.

Er hoffte inständig, dass Bas' Vater nicht zu Hause sein würde. Und die Chancen standen gut, denn es war früher Nachmittag, die Sonne schien wunderbar warm über der Stadt und Herr Marquard sollte zu dieser Tageszeit normalerweise in seinem, so stellte Alex es sich zumindest vor, dunklen, muffigen und mit Spinnweben überzogenen Büro im Keller eines mittelständischen Unternehmens sitzen, weil keiner seiner Kollegen ihn um sich haben wollte.

Das mit dem Büro war etwas übertrieben, das wusste Alex, weil Bas ihm mal erzählt hatte, das Büro seines Vaters biete einen tollen Ausblick auf die Südstadt, aber Alex' Vorstellung passte eher zu dem Mann, den er ... Nein, er fürchtete Bas' Vater nicht, es war eher ein Gefühl des Nicht-würdig-seins, des Nicht-genügens. Herr Marquard gab ihm mit den wenigen Blicken und emotionslosen Begrüßungen, mit denen er Alex für gewöhnlich bedachte, stets das Gefühl, für Bas nicht gut genug zu sein.

Sein bester Freund hatte oft versucht, Alex zu erklären, dass sein Vater ihn keineswegs geringschätzte, dass er zu jedem so sei, er sei eben ein verschlossener Mann, der eine ganze Weile brauche, um mit jemandem warm zu werden. Doch mittlerweile waren Bas und er zwanzig Jahre alt und der alte Grummelbär, wie sein Freund seinen Vater gern nannte, hatte bis heute noch kein freundliches Wort mit ihm gewechselt.

Daher war das flaue Gefühl so stark wie noch nie, als er schließlich auf den messingfarbenen Klingelknopf drückte und das Unhoffbare hoffte: dass Bas selbst oder vielleicht Frau Marquard die Tür öffnen würde, denn Bas' Mutter liebte Alex fast wie seine eigene.

Alex wartete, während die Sekunden vergingen und sich allmählich dem Ende der ersten Minute näherten, ohne dass jemand Anstalten machte, ihm zu öffnen. Er sah auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass er nicht zu früh aufgetaucht war, doch das war er nicht. Er klingelte ein weiteres Mal, länger diesmal, und hatte den Finger immer noch auf dem Klingelknopf liegen, als die Tür schließlich geöffnet wurde – von einem unverschämt gutaussehenden Mann.

Diese Möglichkeit, musste sich Alex eingestehen, hatte er nicht vorhergesehen, obwohl sie auf der Hand lag. Vorausgesetzt, seine erste Vermutung erwies sich als richtig, denn er brauchte eine Weile, bis er sein Gegenüber wiedererkannte, hatte dieser doch nichts mehr mit dem Vierzehnjährigen gemein, den er vor vier Jahren noch zu seinen Freunden gezählt hatte. Auch nicht mit dem schlaksigen Jungen, der ihnen zwei Jahre später bei Bas' Auszug helfen wollte und auf dem Weg zum Auto immer wieder über die eigenen Füße gestolpert war und dabei mehrfach den Kartoninhalt auf die Straße gekippt hatte.

Nein, vor ihm stand ein Mann, ein junger Mann, der seine kastanienbraunen Haare mittlerweile gezähmt hatte. Sein Gesicht hatte die kindlichen Rundungen verloren und verbarg sich zum Teil unter einem gepflegten Dreitagebart. Und die blaugrünen Augen – ja, daran erkannte er ihn nun endgültig –, jene Augen, hinter denen früher jeden Tag ein neuer Streich hervorgesprungen war, zeugten nun von einer inneren Ruhe und einem Selbstbewusstsein, die Alex dem Jungen nie zugetraut hätte.

Er selbst war beschämt, bestürzt und verwirrt zugleich über die Tatsache, dass er keine Sekunde lang damit gerechnet hatte, von ihm die Tür geöffnet zu bekommen. Und dass er ihn hatte vergessen können, das war Alex absolut unverständlich, zumal der Junge, der Mann, im Gegensatz zu seinem Bruder, immer noch zu Hause wohnte.

„Nico!", sagte Alex überrascht und bemühte sich, das Ausrufezeichen in seiner Stimme zu verbergen. „Hi. Lange nicht gesehen."

„Wow!", erwiderte der Jüngere mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Wir sehen uns nach zwei Jahren wieder und das ist alles, was dir einfällt?" Nico schüttelte den Kopf und sah ihn eine Weile mit steinernem Blick an. Doch dann wurden seine Gesichtszüge weicher und er grinste. „Ich mach nur Spaß. Lass die Klingel los, bevor ich taub werde, und komm rein."

Die EntschuldigungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt