Kapitel 1

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Meine Armbanduhr verrät mir, es ist fast 16 Uhr. Mist! Ich bin wie immer spät dran. Ich nehme das Buch, mit dem ich nun seit fast einer viertel Stunde geliebäugelt habe und gehe zur Kasse. Generell verlasse ich den hiesigen Buchladen selten ohne ein neues Buch. Ich seufze, denn eigentlich wollte ich nur schauen. Kopfschüttelnd suche ich in meiner Handtasche nach meinem Portemonnaie.
Ich lese gerne und viel. Für mich ist lesen eine wunderbare Möglichkeit völlig mit der realen Welt abzuschließen und gänzlich in eine neue, fiktive und oft wunderschöne Welt abzutauchen. Dieses Mal trifft meine Wahl auf „Starters", eine Dystopie. Neuerdings habe ich eine Schwäche für Dystopien und von diesem Jugendroman hatte ich bisher nur Gutes gehört.
Der Kassierer, „Tom" steht auf dem Namensschild an seinem T-Shirt, sieht mich belustigt an, als ich an der Reihe bin. Er kennt mich wohl schon.
„Na!?" ein sarkastischer Unterton schwingt in seiner Stimme mit. „Schon wieder ein neues Buch? Dank dir existiert unser Laden überhaupt noch!" Über seinen Witz lachend scannt er den Barcode auf der Rückseite.
„Wirklich witzig!" sage ich ironisch. Er muss so in etwa in meinem Alter sein. Vielleicht ein paar Jahre älter.
Ich tippe nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum, doch Tom kassiert in aller Ruhe das Buch ab und packt es in eine kleine Tüte. Inzwischen ist es genau 16 Uhr und zur Eisdiele brauche ich, wenn ich schnell gehe, mindestens 5 Minuten und Jessica kann es nicht ausstehen, wenn ich zu spät bin.
Hektisch nehme ich die Tüte entgegen, murmele ein „Dankeschön." und gehe Richtung Ausgang.
Gerade als ich die Tür zur Straße aufdrücke, ruft er mir noch gespielt provokativ „Bis zum nächsten Mal!" hinterher. So ein Blödmann! Ich strecke ihm wie ein kleines Mädchen die Zunge heraus. Er lacht.

Draußen erschlägt mich fast die Sommerluft. Es ist August und der bisher miese Sommer meldet sich nun doch seit ein paar Tagen zurück. Ich stöhne auf, verlasse den wohl temperierten Laden und ziehe mir die Sonnenbrille aus den Haaren ins Gesicht. Dieses Jahr ist es einfach zu heiß. Das Thermometer der Bank mir gegenüber sagt 37°C.
Dabei mag ich eigentlich den Sommer, ich bin ein Sommerkind. Mein Geburtstag ist im August, genau genommen in fünf Tagen am Samstag. Ich stöhne bei dem Gedanken daran. Ich mag Geburtstage nicht so, mir ist so viel Aufmerksamkeit um meine Person irgendwie unangenehm. Vor allem, wenn alle das alljährliche „Happy Birthday" für mich anstimmen. Ich weiß in dem Moment nie was ich tun, geschweige denn wo ich hinsehen soll und laufe rot an. Peinlich. Ich schüttele mich ein wenig bei dem Gedanken daran und gehe ein Stück schneller.
Meine beste Freundin Jessica hingegen liebt Geburtstage. Sie liebt es sie zu planen und sie liebt es dafür gefühlte 20 Stunden shoppen zu gehen.
Wohl ein Grund, warum ich heute ein wenig gereizt bin.

Ich bin nun fast da und als ich um die letzte Ecke biege, sehe ich Jessica schon draußen vor der Eisdiele an einem Tisch sitzen. Als sie mich erblickt, schaut sie mich vorwurfsvoll an und deutet auf ihre teure Armbanduhr.
Jessica ist so das typische Mädchen, viel Make-up, viel Styling und geht super gerne shoppen, im Gegensatz zu mir. Ich habe gerne neue Klamotten, aber das Einkaufen und vor allem das viele Umziehen in Kabinen, die viel zu klein und schlecht beleuchtet sind, finde ich anstrengend.
Ich seufze und gehe noch schneller.
„Du bist schon wieder zu spät!" ruft sie schon, als ich noch nicht mal bei ihr bin. Ein paar Leute am Nachbartisch drehen sich um, um zu sehen wer zu spät ist. Ich senke den Blick. Danke, Jess!
„Ich weiß, tut mir Leid." grummle ich zurück, als ich ihren Tisch erreiche.
Ihr Blick fällt auf die Tüte in meiner Hand und ich ärgere mich, dass ich sie nicht gleich in meiner Handtasche habe verschwinden lassen.
„Oh, schon wieder ein Neues?" stöhnt sie und verdreht die Augen, während ich mich erschöpft auf den Stuhl ihr gegenüber fallen lasse. Bei dieser Hitze ist jede Bewegung schon zu viel. „Du hast doch schon so viele Bücher. Und dafür versetzt du mich!"
Jess hat meine Vorliebe für Bücher noch nie verstanden. Sie ist eher der Typ für Zeitschriften und Boulevardblätter. Ein Buch würde sie nie anfassen. Nicht weil sie dumm ist, jedoch langweilt sie sich schnell und sie steht auf den neuesten Gossip.
„Ja Jess, wieder ein Neues. Und ich habe dich gar nicht versetzt. Ich bin bloß ein paar Minuten zu spät." versuche ich mich zu verteidigen und wische mir ein paar Schweißperlen von der Stirn.
„Ja ja, leg dir das nur positiv aus!" sagt sie gespielt gekränkt und zieht eine Schnute.
„Gerade heute, wo wir so viel zu besprechen haben!" fügt sie geschäftig hinzu.
Ich verdrehe die Augen und lege meine Sonnenbrille auf den Tisch um ihr besser in die Augen sehen zu können. „DU hast viel zu besprechen, Jessica! Wenn es nach MIR ginge, würden wir meinen Geburtstag gar nicht feiern!"
Oh, da hatte ich was gesagt. Sie reißt ihre Augen weit auf. „Spinnst du, Kate?" fragt sie mich laut. Einige Tischnachbarn blicken wieder interessiert zu uns. Ist dieser Frau denn nichts peinlich?! „Du wirst zwanzig! Und das auf einen Samstag! ZWANZIG auf einen SAMSTAG!" sie betont die Wörter nochmal so laut und so langsam, als wäre ich beschränkt. „Du hast so viele Möglichkeiten! ICH hatte meinen 20. an einem MITTWOCH!" sie spuckt das Wort aus, als wäre der Tag absolut widerlich. „Du weißt gar nicht was du für ein Glück hast!"
Wenn ich nicht so wütend darüber wäre, dass sie meinen Geburtstag über meinen Kopf hinweg vorhat zu planen, würde ich jetzt vermutlich über sie lachen.
Sie war schon immer so. Schon als ich sie kennen lernte, damals im Kindergarten, war sie das typische Mädchen. Kleidchen, kleine Riemchensandalen und vom Schmutzigmachen hielt sie damals schon wenig. Wenn jemand sie aufforderte doch auch in den Sandkasten zu kommen, hob sie demonstrativ das Kinn und ging davon. Sie war stur, aber sie war auch loyal, wie ich dann bald feststellen sollte. Ich war eher ein schüchternes Mädchen und das bin ich zum Teil auch heute noch. Als Kevin mich damals im Kindergarten mit einer Schaufel bewarf und ich daraufhin weinte, kam sie rüber und hat so heftig mit ihm geschimpft, dass er anfing zu heulen. Seither ist sie meine beste Freundin, auch wenn wir in vielerlei Hinsicht verschieden sind. Dennoch kann sich jeder von uns beiden auf den Anderen verlassen, sobald es brenzlig wird.
„Du hast Probleme." sage ich genervt und lehne mich im Stuhl zurück. Die Sonne steht jetzt tiefer und scheint mir in die Augen. Ich blinzele.
Ehe sie etwas sagen kann, kommt die Kellnerin um unsere Bestellung aufzunehmen. Ich nehme einen Erdbeerbecher, wie immer. Jess bestellt bloß einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Sie ist auf Diät. Schwachsinn! Sie ist schlank und wie ich finde, wunderschön. Sie hat lange, blonde Haare, die sie meistens morgens ewig mit dem Lockenstab bearbeitet. Ich hingegen bin morgens viel zu müde für solche Kunststückchen. Ihre Augen sind hellblau und groß. Sie trägt vielleicht etwas zu viel Make-up, aber sie versteht ihr Handwerk. Ich finde sie sieht toll aus und eine Diät hat sie definitiv nicht nötig.
Ich fühle mich neben ihr immer eher unscheinbar. Meine Haare sind lang und braun. Eigentlich schön, aber ich bin nicht so talentiert, was das Styling angeht, wie sie. Make-up benutze ich zwar, aber auch damit ist sie mir um Längen voraus.
Sie sieht mich missbilligend an, als die Kellnerin verschwunden ist. „Nicht, dass du nachher nicht in dein Kleid passt!" sagt sie vorwurfsvoll.
„Kleid?!" frage ich alarmiert und setze mich auf. „Was für'n Kleid denn bitte? Habe ich was nicht mitgekriegt? Es war nie die Rede davon, dass ich ein Kleid anziehen soll!" ich wimmere in mich hinein.
„Oh, es ist wunderschön und es passt wundervoll zu deinem Hautton, ich habe es bei H&M im Schaufenster gesehen und musste sofort an dich denken!" lässt sie glücklich verlauten.
„Herrgott Jess, ich will kein Kleid anziehen! Und ich gebe auch nicht mein letztes Geld für ein überteuertes Kleidungsstück aus, was ich vielleicht ein Mal im Leben tragen werde und auch nur, weil du mich dazu zwingst!" sage ich geknickt. Das hier geht in eine vollkommen falsche Richtung! An sich habe ich ja nichts gegen Kleider, aber ich kenne meine beste Freundin. Die Kleider, die SIE für gewöhnlich aussuchte, zeigten mir meist zu viel Haut.
„Kate, bitte! Man wird nur ein Mal zwanzig!" sagt sie flehend.
Genervt knirsche ich mit den Zähnen, ich hasse diesen Satz. Er macht keinen Sinn. Man wird ja schließlich auch nur ein mal zwölf.
„Außerdem ist es reduziert! Wenn du willst, schenke ich es dir zum Geburtstag! Es sieht nicht billig aus, wenn es das ist wovor du Angst hast? Es ist es wirklich schön."
Sie spürt meine Gegenwehr bröckeln, als ich unter ihrem Dackelblick aufstöhne. Dieser Blick. Ihre Unterlippe hat sie schmollend nach unten gezogen. Ich grummele in mich hinein.
Vielleicht lässt sie mich mit der doofen Party in Ruhe, wenn ich dem Kleid zustimme. Sobald mir dann irgendwas anderes nicht passt was sie vor hat, kann ich sagen, dass ich ja schon dem doofen Fummel zugestimmt habe.
„Na guuuut. Ich kann's mir ja mal ansehen." sage ich und gebe mich geschlagen. Wie schlimm kann es schon aussehen?
„Ja!" quiekt sie mädchenhaft auf und kramt in ihrer Handtasche. „Das wirst du nicht bereuen!" Ihre Augen leuchten vor Aufregung. Sie zieht ein geblümtes Notizbuch hervor und öffnet die erste Seite. Mit einem Kugelschreiber hakt sie etwas ab.
„Was zur Hölle ist das?" frage ich und will ihr das Buch wegreißen.
Sie ist schneller und zieht es mir weg.
„Nichts." sagt sie und schreibt nun auf ihrem Schoß etwas unten auf die Seite. Aber ich konnte noch die Überschrift lesen, bevor sie es wegreißen konnte. „Kate's Mega-Party" steht in pinken Lettern oben auf ihrem Blatt.
„Nein, Jess...." fange ich an und sinke mit dem Kopf in meine Hände. „Ich habe mich zu einer kleinen Party überreden lassen. KLEIN, Jess! Das was du da planst, sieht nach allem aus, aber nicht nach einer kleinen Party!"
„Ach Kate, das wird super! Mach dir nicht immer so einen Kopf! Ich habe so viele Ideen und musste nun mal alles aufschreiben. Ich darf dafür auf keinen Fall etwas vergessen!" sagt sie und überfliegt stolz die diversen Punkte auf ihrer Liste.
Ich schüttele den Kopf. Wenn ich an ihre eigene Geburtstagsparty zurück denke, und mir einfällt, was sie damals alles aufgefahren hat, wird mir schlecht.
Sie hatte eine lokale, aber dennoch nicht ganz unbekannte Band engagiert, eine Lightshow und sie hatte sogar einen Caterer bestellt.
Ihre Eltern haben viel Geld. Ihr Vater leitet das Autohaus der Stadt und ihre Mutter ist Ärztin. Ihr fehlte es nie an irgendetwas. Sie bekam von ihrem Vater immer alles, was sie wollte.
Ich hingegen wuchs bescheidener auf. Meinen Vater kenne ich nicht, er verließ meine Mutter als ich ein paar Monate alt war. Warum weiß ich nicht und wir sprechen auch nicht darüber. Meine Mutter meidet dieses Thema und ich habe gelernt nicht mehr zu fragen. Was natürlich nicht bedeutet, das ich nicht mehr darüber nachdenke. Seither hat meine Mutter nun zwei Jobs um uns durchzubringen. Ich hoffe allerdings, dass sie bald einen davon an den Nagel hängen kann, jetzt wo ich endlich ausgelernt bin.
„Jaa... deine Ideen... Du weißt, dass ich so viel Aufriss nicht mag." sage ich schließlich.
„Ich werde es trotzdem machen, weil du es verdient hast... vor allem nach der Sache mit-"
„Fang bitte nicht davon an." unterbreche ich sie. Ich verziehe das Gesicht und sinke tiefer in meinen Stuhl. Ben. Nur schmerzlich denke ich an ihn zurück. Ich schüttele den Gedanken an ihn ab.
Sie mustert mich mitleidig. Schnell wechselt sie wieder das Thema: „Jedenfalls... überlass' das ganz mir!" sagt sie vergnügt und lässt laut ihr Notizbuch zuklappen als wäre das Thema damit beendet. „Ich kümmere mich darum. Die Party wird legendär! Keine Angst!" fügt sie lächelnd hinzu. Im selben Moment kommt die Kellnerin mit unserer Bestellung.
Ja, denke ich, deswegen habe ich ja Angst und stecke mir frustriert einen riesigen Löffel Eis in den Mund.

LOVE or FAITHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt