Anders

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Kalte Tränen bedeckten ihr porzellanartiges Gesicht, vermischt mit dem Blut, das auf ihrer weißen Haut schmerzhaft leuchtete. Rote Flecken, die ihre makellose Schönheit minderten und ihre sonst so reine Unschuld grausam befleckten.

Die verzweifelten Schreie des Mädchens hallten laut durch die kleine Wohnung, Schluchzer erfüllten den Raum, wie die gespenstische Melodie eines toten Klaviers. Sie bohrte ihre Fingernägel in die weiche, zarte Haut ihrer Handfläche und drückte zu. Der Schmerz durchzog stichartig ihren kompletten Arm, doch sie stoppte nicht. Drückte immer fester, bis sie das warme Blut zwischen ihren Fingern spürte.

Sie beobachtete, wie sich die rote Flüssigkeit sammelte, einen kleinen, blutenden Teich in ihrer Handfläche bildete. Ihre Fingernägel hatten Spuren hinterlassen; tiefe, halbmondförmige Einkerbungen, die brutal auf ihrer weißen Haut leuchteten, und aus denen in einem unstetigen Rinnsal schmale Tropfen flossen, als würden sie die Tränen des Mädchens teilen.

Sie schloss die Augen, wollte bloß schlafen, träumen, wie normale Menschen es taten. Sie wollte von einer perfekten Welt träumen, in der sie nicht auffiel, in der die Menschen sich nicht vor ihr fürchteten und sie nicht als Monster bezeichneten.

Sie stellte sich vor, wie es wäre, mit Menschen zu reden, als wäre sie eine von ihnen, wie es wäre, die Sonne auf ihrer bleichen Haut zu spüren, ohne eine Glasscheibe dazwischen zu haben, die ihr immer wieder auf schmerzliche Art zeigte, dass sie dennoch anders war.

Sie wollte den Wind in ihren Haaren spüren, und das nicht nur von ihrem Fenster aus.

Die Tränen, die sich gesammelt hatten, flossen ihr an den Wangen hinunter als sie ihre Augen aufschlug. Wäre sie wie die ganzen Leute dort draußen, hätte man sie als schön bezeichnen können. Etwas zu blass für ihre hellen Haare, aber dennoch schön. Es war ihre helle Haut, die ihre dunkelblauen Augen leuchten ließ. Würden sie nicht immer so traurig blicken, dann wären auch sie schön.

Sie klammerte sich an den Kissenbezug, der auf ihrem Schoß lag. Er war weiß, strahlend, wie die Federn, die überall um sie herum verstreut waren. Sie drehte den Bezug in ihrer unversehrten Hand, suchte nach einem Fleck, der seine strahlende Unschuld minderte, genau wie das Blut in ihrem Gesicht. Doch sie fand keinen.

Der Frust wuchs immer weiter in ihrer Brust und auch der Druck stieg immer mehr an. Sie schrie, weinte, und trat um sich. Der Bezug, die Federn auf den weißen Fliesen des Badezimmers, die Möbel, all das Weiß brannte ihr in den Augen und ließ sie unkontrolliert tränen.

Sie kämpfte gegen den Drang an zu rennen. Manchmal, wenn es ihr ging wie gerade, wollte sie rennen, doch dafür war in ihrer kleinen Wohnung kein Platz, es reichte gerade einmal für sie.

Mit zitternden Händen sammelte sie die Federn auf und stopfte sie in den Bezug. Sie verachtete das Gefühl der weichen Federn auf ihrer Haut und ihren lautlosen Knall, als sie den Stoff berührten. Nachdem sie alles aufgesammelt hatte, knotete sie das offene Ende des Bezugs zu und warf ihn in die Badewanne. Das dumpfe Geräusch hallte durch das Badezimmer, doch weiter kam er nicht. War viel zu leise, um auch den Rest ihrer Wohnung mit dem fast stummen Geräusch zu erfüllen.

Müde stützte sie sich an die Wand, doch die Kälte der Fliesen ließ sie zittern. Sie schlang die Arme um ihren nackten Oberkörper, dann verließ sie den Raum.

Sie setzte sich ans Fenster und tat das, was sie Tag für Tag machte. Sie beobachtete die Leute, die unter ihrem Fenster vorbeigingen, sah ihnen zu, wie sie redeten und lachten. Sie hatte nie gelacht, auch nie geredet, sie war immer alleine gewesen, für lange Zeit in dieser Wohnung eingesperrt. Eingesperrt durch ihre eigene unsichtbare Mauer.

Sie lehnte sich gegen den Fensterrahmen und schloss langsam die Augen, begann zu träumen, von einer Welt, in der alles anders war.

Doch für sie gab es keine andere Welt. Sie war hier, eingeschlossen in ihrem Raum, zu ängstlich und zu feige um sich den Menschen dort draußen zu stellen. Doch wenn sie die Augen schloss, sah sie genau dies vor sich. All die Menschen, die sie auslachten. Mit dem Finger auf sie zeigten, über sie sprachen, und sich von ihr abwandten. Für Dinge, die sie getan hatte, weil sie es gut meinte. Weil sie helfen wollte. Und so öffnete sie wieder ihre Augen, starrte aus dem Fenster, so wie sie es immer tat.

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