Als sich die Schüler und Lehrer zum Mittagessen im Hungersaal versammelten, wurde mal wieder - wie schon oft zuvor - einer der Kurzfilme abgespielt, die Hanns von Fortinbrack und seine Verbündeten in ein möglichst gutes Licht rücken sollten. Verschiedene Aufnahmen wurden gezeigt, von Hanns, der sich mit seinen Beratern unterhielt, um die Welt reiste und teure Veranstaltungen besuchte, auf denen sich die wichtigsten Politiker versammelten, um über den unwichtigsten Kleinkram zu tratschen und sich bei einander ein zu schleimen. Als eine Aufnahme von Hanns gezeigt wurde, der seiner bildhübschen Verlobten Lumili einen Kuss auf die Stirn drückte, verzog Viego verächtlich das Gesicht. Wie konnte er es wagen, sich mit diesem abgezüchteten Schoßhund von Frau sehen zu lassen, wo doch hier das wohl bezauberndste, eigensinnigste Geschöpf ganz Amuyletts so sehnsüchtig auf ihn wartete. Er wandte sich zu Scarlett um, die ihre Augen zu Schlitzen zusammengekniffen hatte. Ihre Hand war um die Gabel, die sie hielt verkrampft, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten und ihr Gesicht wirkte so verbissen, dass ihre Freundinnen sie besorgt anblickten. Und noch immer war sie für Viego das Ebenbild purer Schönheit. Er wusste genau, dass er es nie gewagt hätte, sie so zu verletzen. Er hätte alles für sie aufgegeben. Was interessierte ihn schon das Schicksal irgend einer Welt, wenn es darum ging, von Scarlett geliebt zu werden? Als die an der Wand projizierte Aufnahme endete, erhob sich Scarlett hastig aus ihrem Stuhl und stakste aus dem Raum, ohne Viego's sehnsüchtigen Blick zu bemerken, der ihr noch immer folgte.
Als Viego später durch den Spiegel in Marias Welt eintrat, rauschte Scarlett genau an ihm vorbei. Sie tigerte im Raum auf und ab, ohne ihn im geringsten zu beachten. Mit seinen Augen folgte er ihr von einer Seite des Raums zur anderen und betrachtete ihr rabenschwarzes Haar, das wild um ihr Gesicht wehte. "Jetzt beruhig dich doch Mal, Scarlett.", meinte Maria beschwichtigend. Scarlett ignorierte sie vollkommen und setzte stattdessen den Monolog fort, den sie anscheinend schon seit einer Weile aufrecht erhielt. "Ich glaube es kaum! Wie kann er es wagen, sich so an sie ranzuschmeißen?!", donnerte sie. "Er macht mich noch wahnsinnig!"
Viego betrachtete sie weiterhin schweigend, währendem er etwas überfordert in der Mitte des Raumes stand. "Scarlett, du weißt doch, dass er nur dich liebt.", erwiderte Lissandra vorsichtig. "Er ist schließlich nur mit Lumili verlobt, weil er Weißer Stern als Verbündete braucht." "Ja ja, ist schon klar, aber er muss sie ja nicht gleich so abknutschen!" Darauf wusste Lissandra auch nichts zu antworten. Scarlett fuhr sich eilig mit einer Hand durch ihr widerspenstiges Haar und ihre Augen funkelten einen Punkt im Raum an, den nur sie sehen konnte. Viego räusperte sich. Scarlett hielt in ihrer Wanderung durch den Raum inne und blickte ihn an. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass der Halbvampir ebenfalls anwesend war. "Was?", fauchte sie, offensichtlich gereizt. Viego zwang sich, ruhig zu bleiben. "Ich kann dir nur sagen, was ich auch schon zuvor gesagt habe; Hanns wird dich verletzen. Immer und immer wieder. Ihm mag momentan etwas an dir liegen, aber irgendwann wird er dich einfach fallenlassen. Für ihn bist du nur ein weiterer Zeitvertreib, ein weiteres Mädchen unter all den anderen. Es gibt nur zwei Dinge, die dieser Junge liebt: Sich selbst und die Macht über andere. Und er weiß ganz genau, dass er Macht über dich hat, deswegen wird er dich immer wieder auf's Neue ausnutzen. Aber du bist nicht einfach nur irgendeins dieser Mädchen, Scarlett. Du bist etwas besonderes, etwas besseres." Alle im Raum starrten ihn an und Viego befürchtete schon, dass er es dieses Mal zu weit getrieben hatte. Das er die Gefühle für Scarlett, die in seinem Inneren brodelten, zu nah an die Oberfläche gelassen hatte. Scarlett presste die Lippen aufeinander und sah ihn direkt an. "Das stimmt nicht.", sagte sie fest. "Ich mag sauer auf Hanns sein, aber ich weiß, dass er mich liebt. Auch wenn er irgendwann Lumili heiraten sollte, ich werde noch immer die Gewissheit seiner Liebe haben. Ja, es tut weh, ihn so mit diesem Mädchen zu sehen. Ja, ich lasse meinen Ärger oft an euch aus. Ja, es tut mir leid. Aber trotzdem weiß ich, dass wir füreinander bestimmt sind. In nichts bin ich mir sicherer." Scarlett's Ausdruck war sanfter geworden, fast schon verträumt, doch er erwiderte ihren Blick unnachgiebig. "Warum bist du so misstrauisch gegenüber Hanns? Was hast du gegen ihn, Viego?" Die Frage traf ihn unvorbereitet und für einen Moment fehlten ihm die Worte. Er öffnete seinen Mund, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen. Viego richtete seinen Blick auf den Boden neben sich und atmete durch. "Ich will nur nicht, dass er dich weiter verletzt. Du hast etwas besseres verdient, Scarlett. Ich kann nicht mitansehen, wie du so leidest." Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, doch es kam dem Ganzen zumindest halbwegs nah. "Viego...", Scarlett blickte ihn traurig an und sein Herz zog sich zusammen. "Mach dir keine Sorgen um mich, okay? Ich kann damit leben. Es mag Probleme geben, aber ich bin glücklich mit Hanns." Viego ließ sich in einen der roten Ledersessel sinken und legte zwei Finger an seine Nasenwurzel. Wenn sie doch nicht so sturköpfig wäre. Wenn er sie doch nicht so lieben würde.
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Feral Hearts
FanfictionViego Vandalez spielt für Scarlett schon immer eine Art Vaterrolle, doch was, wenn die Gefühle des Halbvampirs längst über dies hinausgehen ?