"Lass das doch einfach und geh an die Kabine, ich mache das schon, du brauchst zu lang!" Seyma, eine über 30 jährige Verkäuferin, die in diesem Laden arbeitet, die weder meine Chefin ist, noch irgendeine hohe Position in diesem Saftladen einnimmt, gibt mir Befehle und kommandiert mich rum. Jedes verdammte mal. Und jedes Mal kann ich es kaum abwarten bis die Stunden vergehen, der Laden sich allmählich leert und ich nach Hause darf. Aushilfsjob. Ich wollte es. Ich wollte arbeiten gehen, mein eigenes Geld verdienen, mein jugendliches Leben selbst in die Hand nehmen, zumindest ein kleines Stück, nur ein kleines Gefühl von Unabhängigkeit. Ich wollte es. Meinen Eltern beweisen, dass ich stark bin. Dass ich Schule und Arbeit meistere und vielleicht wollte ich aber eigentlich nur von Zuhause fliehen. Das ist der Preis dafür. Hasserfüllte Kolleginnen, die mich jedes mal anschauen, mit einem Blick der mich eigentlich töten müsste, doch er tut es nicht. Vielleicht ist meine Kämpferhaut zu dick, vielleicht mein Herz zu groß, dass es keinen Hass durchlässt. "Du legst das falsch zusammen, ich mach das. Du kannst Fläche machen.". Ich widerspreche nicht. Ich schlucke schwer, doch sage nichts. Ich merke wie mein Inneres ganz langsam anfängt zu kochen, mein Atem schwerer wird und mir wird heiß also atme ich tief aus und wieder ein, verziehe keine Miene und laufe lächelnd auf eine Kundin zu, die sich gerade über perfekt zusammengelegte Pullover stürzt, um ihre Größe zu finden. Ich ahne nichts gutes. Sie wird die Pullover total durcheinander bringen und ich darf dann alles schön wieder zusammenfalten. " Welche Größe brauchen sie denn?" "Ich weiß nicht, S oder M?" "Na dann gebe ich Ihnen mal beides und sie probieren beide einfach an" Ich lächle das Mädchen, das so ca. in meinem Alter sein müsste, herzlich an. Sie grinst breit zurück. "Vielen lieben Dank!" "Nichts zu danken!" sage ich dann immer. In mir spüre ich eine Wärme. Eine Wärme, weil es in unserer so kaputten Welt, die von Hass, Neid und Egoismus geprägt ist, doch noch diese Herzlichkeit gibt zwischen zwei Fremden, die nichts miteinander zu tun haben, sich nur anlächeln und freundlich zueinander sind. Eine Welt in der, der helfen kann, auch wenn diese Hilfe so unendlich klein ist wie ein Sandkorn in der Sahara, hilft, ohne einen bösen Blick, ohne ein verhasstes Wort. Nachdem mich das Mädchen auch noch um eine braune Lederjacke in der Größe 36 bat und ich diese für sie rausgesucht hatte, bedankte sie sich nochmal bei mir. "Danke wirklich!" "Für was denn? Das ist doch mein Job! Wirklich gerne gemacht!" Sie bleibt stehen und guckt ernst. "Nein. Wirklich, danke für deine Freundlichkeit." Ich lächle und stocke. Mich berührt dieser Moment. Er erfüllt mich mit einer Freude. Seyma, die alles beobachtet hatte, kommt auf mich zugetrottet und gibt mir den neuen Befehl. Doch jetzt reicht es mir. "Was genau ist eigentlich dein Problem? Wenn ich etwas falsch mache, dann tut es mir leid, aber belehr mich doch bitte einfach eines besseren. Wenn du persönliche Probleme hast, du mich nicht sehen kannst und ich dir ein Dorn im Auge bin, dann sag es mir. Ich lasse dir gerne den Vortritt und sage Sabine sie soll mich nicht mehr mit dir einteilen. Aber bitte hör auf mich wie einen Hund von A nach B zu schicken und mich andauernd zu kritisieren." Ich würde es so gerne sagen, diese Worte liegen auf meinen Lippen und warten nur darauf ausgesprochen zu werden. Aber ich kann nicht. Ich fühle mich erniedrigt und benutzt. Wie eine Schachfigur und ein Fußball. ich bin eine Marionette unter ihrer Herrschaft und ich kann mich nicht wehren. Endlich ist es 20.00. Ich melde mich ab, wünsche der Hexe keinen schönen Abend und sage einfach "Tschüss", verlasse den Saftladen und das große Shoppingcenter und trete nach draußen. Es ist kalt, eisigkalt. Ich schwinge meinen Schal noch einmal um meinen Hals und versuche meine Ohren zu bedecken, um sie vor der Kälte zu schützen. Sie tut gut, diese Kälte. Ich fühle mich dreckig und unfair behandelt und bin maßlos enttäuscht. Enttäuscht von mir selbst. Ich bin ein ehrlicher Mensch, ich will keinem was schlechtes und würde auch niemals jemanden mit Worten verletzten wollen, aber ich kann meinen Mund öffnen und meine Meinung sagen. Eigentlich.
Meine Mutter hat einmal gesagt, als ich mit ihr Stritt weil mein Vater zu streng ist. " Du wirst die anderen Leute ertragen, mehr als du deine Eltern ertragen hast, weil du musst." Sie hatte recht. Ich habe nichts gesagt und eine fremde Frau einfach ertragen, habe ihren Wut und Hass geerntet und mich nicht gewehrt. Und diese Frau hat nichts, nicht einmal im geringsten etwas für mich, mein Leben und meine Zukunft getan. Anders als meine Eltern, die ihre komplette Zeit, ihre Kraft, Ihre Liebe und ihr Wissen in uns Kinder stecken und wir entgegnen Ihnen so oft mit Trotz, Unfreundlichkeit und Wut, weil sie nicht das sagen oder tun was wir gerne hätten. Weil ihre Vorstellungen vom Leben nicht 1 zu 1 mit unseren übereinstimmen. Dann sind wir trotzig, heben die Nase und sind stur. Entgegnen ihnen frech und undankbar und denken nicht im Traum daran nachzugeben und ihren Worten Gehör zu schenken, obwohl sie unsere Eltern sind. Unser Fleisch und unser Blut und wir sind ihres. Ich stehe hier immer noch in der Kälte mitten in der Stadt von Augsburg. Mein Bus kommt in wenigen Minuten. Ich fühle mich nicht gut und schäme mich für mein verhalten meinen Eltern gegenüber. Wie kann ich die anderen Leute ertragen, meine eigenen Eltern aber nicht...
Vielleicht fallen euch auch Situationen ein, in denen ihr fremde Leute ertragen habt und zu euren Eltern nicht gut wart, doch euch war das nie wirklich klar. Mit einem lieben Wort und einem Lächeln kann man viel mehr erreichen als mit Hass und Trotz. Was man gibt, das erntet man auch, da bin ich mir sicher. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann ganz bestimmt.
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La melodia del cuore
Teen FictionDie Melodie des Herzens. Im ersten Teil der 'Geschichte', erfahrt ihr worum es hier gehen soll.