Prolog

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Im Jahr 1907 versuchte der Arzt Duncan MacDougall eine fortlaufende Existenz der menschlichen Seele nach dem Tod nachzuweisen.

Dazu wollte er das Gewicht der Seele messen und kam zu einem überraschenden Ergebnis.

Denn es scheint alles einfacher zu sein als wir denken – die Seele soll demnach 21 Gramm wiegen.

 

 

„Mein Name ist Emily Sophie Bradshaw. Ich war 18 Jahre alt, als meine Familie und ich bei einem schweren Autounfall auf dem Weg in den Urlaub ums Leben kamen.“

„MUM! Emily hat mir mein Handy weggenommen!“, Tiffin schreit und versucht mir von seinem Sitz aus auf den Arm zu schlagen.

Vom Beifahrersitz dreht sich meine Mutter zu uns nach hinten um: „Tiff, setz dich wieder normal hin und Em, gib ihm das Handy zurück.“

Genervt drücke ich meinem 12 jährigen Bruder sein Handy in die ausgestreckte Hand. Er zeigt mir die Zunge und reißt dabei die Augen auf.

Ich schneide wütend eine Grimasse und drehe mich dann zum Fenster.

„Hört auf euch ständig zu streiten.“, ertönt es vom Fahrersitz. Dad wirft mir durch den Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu, denn er weiß, dass Tiffin sehr nervig werden kann. Leider bin meistens ich diejenige, die den Kürzeren zieht und so auch heute, denn Mum steht wieder voll und ganz hinter meinem kleinen Bruder.

„Er ist erst zwölf, wieso hat er überhaupt ein Handy?“, knurre ich, ohne Tiffin anzuschauen.

„Darüber haben wir schon hundert Mal gesprochen.“, erwidert Mum und schüttelt gedankenverloren mit dem Kopf.

Tiffin grinst mich blöd an und weicht dann meiner Hand aus, die wie automatisch nach ihm greifen will. Er hat Glück, dass mein Gurt ein weiteres Vorlehnen verhindert.

„Emily will mich schlagen!“, schreit das kleine Biest und drückt sich gegen die Autowand.

„Emily!“, Mum versucht streng zu klingen, aber sie ist viel zu beschäftigt mit der Landkarte.

Dad seufzt: „Ich will einmal einen friedlichen Tag mit euch beiden erleben.“

„Das wird schwer.“, erwidere ich und Tiffin nickt eifrig: „Unmöglich!“

Wir fahren durch einen kleinen Wald, hinter dem die Sonne bereits verschwunden ist. Ich höre die Grillen durch das offene Fenster zirpen und betrachte die dunklen Bäume, die wie Schatten an unserem Wagen vorbei huschen.

„Fahr nicht so schnell, Jerry.“, warnt Mum meinen Vater.

„JA! Dad, ich hab das neue Level geschafft!“, schreit Tiffin urplötzlich und Dad lacht.

Er dreht sich ein kleines Stück im Fahrersitz, um einen kurzen Blick auf Tiffins Handy zu werfen. Das Lenkrad in seiner Hand rutscht mit ihm nach rechts, während sein Blick auf den Bildschirm huscht.

Mum schreit, als vor uns auf der Straße plötzlich etwas großes Schwarzes auftaucht.

Später sollte ich erfahren, dass es ein verschrecktes Reh war, dass sich da auf den Weg verirrt hatte, doch in diesem Augenblick kommt es mir vor, als wäre es etwas Größeres, etwas Furchteinflößendes, Bedrohliches.

„JERRY!“, kreischt Mum, Tiffin schreit erschrocken auf, sein Handy fällt ihm aus der Hand auf den Boden und flackert noch einmal in meinen Augen auf, bevor das Licht erlischt.

Quietschende Reifen, ein dumpfer Aufprall auf der Motorhaube, klirrende Scheiben, die von dem Gewicht des Tieres zerspringen.

Dann ist alles schwarz.

Guardian AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt