Versetzt (2)

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Obwohl unsere Wohnung nicht weit vom Brwonie's entfernt war, war ich völlig durchnässt, als ich in unsere Straße einbog. Wir wohnten in einen der Mehrfamilienhäuser- wie sie gern genannt wurden, aber in Wirklichkeit waren es kleine Hochhäuser mit vier Stockwerken und drei Wohnungen pro Etage am Rand von Jackson Falls. Das, in dem unsere Wohnung war, war das zweite in der Reihe der Straße. Früher mussten sie sogar einmal schön ausgesehen haben. Backsteinhäuser, zwar etwas groß und schmucklos, mit weißen Fenstern und Türen, kleinen Balkonen und Flachdächern. Aber sie waren schon ziemlich alt, grau und schmuddelig.
Ein weißer Umzugswagen stand auf der regennassen Straße. Wahrscheinlich waren es die neuen Mieter, denn vor mehreren Wochen war eine Wohnung im vierten Stock leer geworden. Ohne den LKW weiter Beachtung zu schenken, eilte ich weiter. Ich lief den schmalen Weg zu dem Haus und drückte mich gegen die schwere Haustüre.

Endlich stand ich im Trockenen- aber ich fror trotzdem. Also verschwendete ich nicht mehr Zeit und durchquerte den Hausflur. Ich wollte gerade die Treppe hinauf in den zweiten Stock laufen, wo sich unsere Wohnung befand, als eine Türe hinter mir knarzte und eine Stimme mich zurückhielt.

„April-Kindchen", zwitscherte etwas – oder jemand- in meinem Rücken. Mist, dachte ich und drehte mich um. Und tatsächlich Ms Wysock, eine ältere Dame, die im Erdgeschoss wohnte, lief geradewegs mit einem Müllbeutel in der Hand auf mich zu.

„Tag, Ms Wysock", begrüßte ich sie freundlich, doch am liebsten wäre ich hochgelaufen und hätte mir etwas Warmes- und Trockenes- angezogen.

„Was für ein herrlicher Tag, nicht wahr?", trällerte sie und trippelte weiter auf mich zu. Sie war klein, etwas untersetzt und... etwas geziert. Das merkte man allein schon an ihren akribisch lakiert und geschnittenen Nägel, ihrer Hochsteckfrisuren, die aussahen, als wären sie aus einer Zeitschrift entsprungen (natürlich aus einer, für Damen gehobenen Alters), ihrem immer perfekt geschminkten Mund. Und, na ja, an vielen anderen Details, die man feststellte, wenn man länger sich in ihrer Nähe befand. Allein schon wie sie den Müllbeutel hielt- als wäre er Ungeziefer.

Doch zurück- es sollte heute herrliches Wetter sein? Es regnete in Strömen.

Man musste mir meine Skepsis angesehen haben, denn sie räumte ein: „Bis auf diesen scheußlichen Regen... und den zugezogenen Himmel. Na, wohin willst du gerade?"

„Nach oben, Mom wartet schon auf mich."

Übertrieben legte sie die Hand auf ihren spitzen, kirschrot geschminkten Mund.

„Dann will ich dich nicht weiter aufhalten, Kindchen. Richte schöne Grüße an deine Mutter aus", zwitscherte sie weiter und verzog ihren roten Mund zu einem Lächeln. Sie war genau die Sorte von Mensch, die einfach immer fast schon ekelhaft gute Laune hatten.

Ich nickte und drehte mich um.
„Auf Wiedersehen", rief ich über meine Schulter und atmete innerlich auf ihren ewigen Ausführungen entkommen zu sein. Langsam hatte ich herausgefunden, dass meine Mom eine echt guter Vorfand war, um ihr zu entkommen.

Sie trällerte noch etwas, während sie den Müllbeutel in die Tonne beförderte, doch ich war bereits schon so weit oben, dass ich sie nicht mehr verstand.

Zwei Stockwerke höher stand ich dann endlich vor unserer Wohnungstür und kramte meinen Schlüssel aus der Hosentasche. Kurz darauf drehte ich ihn im Schloss und mit einem Kicken öffnete sich die schwere Tür. Ich schob sie ganz auf und stand in unserem schmalen Flur.

„Bin wieder da", rief ich und schlüpfte aus meinen Schuhen. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Ich hörte den Fernseher im Wohnzimmer laufen, doch eine Antwort bekam ich nicht. Vielleicht hatte mich Mom nicht gehört. Nachdem ich meine nasse Jacke an den Haken gehängt hatte, lief ich strumpfsockig ins Wohnzimmer, das am Ende des Flurs lag. Im Türrahmen blieb ich stehen und entdecke Mom auf der Couch mit einer Schachtel Pralinen in der Hand. Im Fernseher lief gerade eine ihrer Serien- zwei Frauen stritten sich in dieser Folge und fuchtelten wild mit den Händen durch die Luft.

Sie blickte nicht einmal auf, sondern sagte nur: „Hallo April." Während ihre Augen auf dem Fernseher gerichtet waren.

„Hi Mom." Meine Mutter sah noch einige Augenblicke zu, bis der Film von Werbung unterbrochen wurde. Erst dann sah sie mich richtig an.
„Du bist schon hier?", fragte sie mich erstaunt und wickelte eine der Pralinen aus dem Papier.
„Ja. Woher sind die Pralinen?", fragte ich erstaunt und etwas skeptisch.
„Eddie hat sie vorbeigebracht. Nett von ihm, was?" Lächelnd schob sie sich die Süßigkeit in den Mund. Ed war einer ihrer vielen Lovers, die sie nach Hause schleppte. Ich hatte schon vor Jahren aufgehört sie zu zählen.

„Na dann. Was ist eigentlich mit unserem Chinesen-Abend?", fragte ich sie.

„Ach ja... den müssen wir verschieben. Ed und ich haben heute noch etwas vor."

Verwundert hob ich eine Augenbraue, doch ihre Augen waren bereits wieder auf dem Fernseher gerichtet.

„Okay, dann bin ich in meinem Zimmer."

Ich machte kehrt und lief über den Flur in mein Zimmer. Eigentlich hätte ich froh darüber sein müssen, denn so ein Familienabend war meistens nicht besonders... angenehm, aber heute war ich trotzdem enttäuscht, obwohl ich es mir nicht recht eingestehen wollte.

Ich seufzte und schloss meine Zimmertür, dann schlüpfte ich in eine Jogginghose und zog frische Socken an. Die nasse Hose landete achtlos auf der Stuhllehne.

Sollte ich Timothy doch noch zusagen? Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, doch dann entschied ich mich dagegen. Ich war müde, nass und große Lust hatte ich auch nicht.

Stattdessen holte ich mein Handy hervor und überprüfte ob ich eine neue Nachricht erhalten hatte. Fehlanzeige. Ich schaltete die Musikanlage an und setzte mich aufs Bett. Morgen war der erste Tag im neuen Schuljahr. Dann kam ich in die elfte Klasse.
Mein Handy vibrierte. Ich langte danach und strecke mich auf dem Bett aus.

Naomi hatte mir geschrieben. Meine Stimmung hob sich augenblicklich. Bin gerade aus dem Flieger raus. Ruf dich an, wenn ich zuhause bin. Hab dir voll viel zu erzählen, Naomi. Ich übersprang den nächsten Song in meiner Playlist. Naomi war schon seit der Grundschule meine beste Freundin. Sie war die Ferien über in Kalifornien gewesen. In dem schönen, heißen Kalifornien. Und ich musste wieder zuhause bleiben. Denn Mom und ich fuhren nie weg, ehrlich gesagt konnte ich mich nicht einmal erinnern, dass ich je über die Grenzen des Bundesstaats hinausgekommen war.

Dark Side- Im Schatten des Wolfes Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt