Als ich über die Türschwelle trat und mir die stickige von Rauch gefüllte Luft entgegenschlug, wusste ich, dass ich nicht hier sein sollte. Oder überhaupt hier sein wollte. Das Kosmos, eine Bar, die der Treffpunkt für Oberstufenschüler war, war mit den Leuten aus meinem Jahrgang gefüllt. Die meisten hielten ein Glas in der Hand und waren schon deutlich angetrunken, wie man an ihren ausgelassenen Emotionen erkennen konnte.
Eigentlich wäre ich jetzt lieber zuhause, in meinem Bett mit meinen Büchern und meinem Laptop, vertieft in meine Lieblingsserie. Doch meine beste Freundin hatte es geschafft mich zu überreden hier aufzukreuzen, beim letzten Treffen nach dem Abitur, bevor es für die meisten auf Reisen ging.
Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen auf der Suche nach Jenny, meiner zweiten Hälfte. Aufgrund der bunten Lichter und meiner Kurzsichtigkeit dauerte es einige Augenblicke bis ich sie an einem der Stehtische entdeckte, in Gesellschaft von ihrer Clique. Ich seufzte innerlich. Seit man uns in der achten Klasse getrennt hatte, hatte sich Jenny einen neuen Freundeskreis aufgebaut, ich jedoch war alleine geblieben. Glücklicherweise waren die Leute nett und ich verstand mich mit ihnen ganz gut.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, bis ich bei meiner besten Freundin stand, die gerade einen Shot hinunterstürzte. Als sie mich sah, hellte sich ihre Miene auf und sie grinste mich schelmisch an.
»Hallo Leslie!«, begrüßte sie mich und wir umarmten uns, wobei sie sich mit ihren 1,80 Metern bücken und ich mich mit meinen 1,60 Metern strecken musste.
»Schön, dass du doch gekommen bist«, meinte sie und drückte mir einen Shot in die Hand, obwohl ich energisch den Kopf schüttelte. Ich hatte keine Lust etwas zu trinken. Heute nicht. Im Allgemeinen lag mein Alkoholkonsum im Durchschnitt bei vielleicht einen Glas im Monat, nichtsdestotrotz hatte ich schon die Erfahrung gemacht, was passierte, wenn man seine Grenze überschritt. In meinem Fall war es eine widerliche Übelkeit am nächsten Morgen gewesen.
»Auf uns Leslie«, sagte Jenny und erhob ihr Glas, bevor sie dessen Inhalt in einem Schwung hinterkippte. Ein kurzes Schütteln ging durch ihren Körper dann stupste sie mich an und machte ihre Freunde auf meine Anwesenheit aufmerksam. »Leslie ist hier!«, rief sie freudig und klatschte in die Hände. Nach einer allgemeinen Begrüßungsrunde, in der ich alle, es waren fünf an der Zahl, umarmt hatte, gesellte sich Ailin zu mir.
»Na, hat dich Jenny doch überzeugen können zu kommen?«, meinte sie lachend. Ich warf meiner besten Freundin einen gespielt bösen Blick zu. »Du kennst sie. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, lässt sie nicht locker«
Jenny streckte mir die Zunge raus und ich legte lachend den Kopf in den Nacken. Ich war froh sie zu haben, denn ich hatte noch nie jemanden gehabt, mit dem ich auf einer Wellenlänge war.
Kennengelernt hatte ich sie in der fünften Klasse und in der siebten hatten wir beschlossen, dass wir beste Freundinnen waren. Wie sehr wir uns doch verändert hatten. Vor allem jetzt an diesem Abend fiel mir diese Veränderung auf.
Jenny hatte ihre sandbraunen Locken in einer schlichten Flechtfrisur gebändigt, aus der sich jedoch einige widerspenstige Strähnen lösten. An ihren Haaren hatte sie mir das Flechten beigebracht, weil es mit meinen glatten hellblonden Haaren einfach unmöglich war, da sie einen ständig durch die Finger flutschten.
Das komplette Gegenteil von uns war Ailin: ihre rabenschwarzen Haare waren kurz geschnitten- sie hatte einen Undercut- und ihre Haut hatte selbst im tiefsten Winter die Farbe von Milchkaffee, während Jenny und ich aussahen wie zwei Wasserleichen.
Ich hielt immer noch meinen Shot in der Hand und wippte unruhig mit den Füßen auf und ab.
»Leslie, trink doch mal, vom Halten wird er nicht verschwinden«, forderte mich Ailin auf.
»Willst du vielleicht?«, fragte ich sie und hielt ihr das Glas hin, doch sie schüttelte lachend den Kopf. »Tut mir Leid, aber ich trink lieber noch nen Caipi. Außerdem hatte ich schon ein paar. Du hast einiges aufzuholen«
Mit diesen Worten klopfte sie mir auf die Schulter und ließ mich stehen. Ich sah Ailin nach, wie sie in Richtung Cocktailbar verschwand und wollte mich an Jenny wenden, doch von ihr fehlte jede Spur. Wunderbar. Nun stand ich hier alleine und wusste nichts mit mir anzufangen. Und wieder fragte ich mich, warum ich überhaupt hier war. Den Großteil der Menschen der hier war, konnte ich nicht leiden und der andere Teil hatte sich innerhalb von kürzester Zeit, so schien es mir, in Luft aufgelöst. Ich lehnte mich an die Wand und ließ meinen Zeigefinger um den Rand des noch vollen Glases kreisen. Der durchsichtige Inhalt war durchaus verlockend, doch nicht verlockend genug, als das ich ihm nachgeben würde. Ich ließ meine Augen über die Menschen wandern, analysierten die mehr oder weniger bekannten Gesichter und ließ die Ereignisse, die ich mit ihnen verband Revue passieren. Es waren meist negative Erinnerungen, die ich zu verdrängen versucht hatte und je mehr ich in die Vergangenheit eintauchte, desto angespannter wurde ich. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, während meine Hand krampfhaft das Glas umklammert hielt. Ich sollte nach Hause gehen, bevor...Ich erstarrte. Blinzelte. Kniff die Augen zusammen. Ich wünschte mir, ich würde mich täuschen, doch dem war nicht so. Er trat aus dem Seitengang, der zum Ein- und Ausgang führte, den rechten Arm um Diana- eine perfekte Blondine, neben der ich in Deutsch gesessen war- gelegt, in der freien Hand eine Glas haltend, dessen Inhalt nur noch aus halb geschmolzenen Eiswürfeln bestand.
Er lachte, die Zähne gebleckt und an seinen unkoordinierten Bewegungen war zu erkennen, dass er schon einiges getrunken hatte. Mein Herz krampfte sich zusammen und ehe ich mich versah hatte ich den Shot in einer einzigen schnellen Bewegung hintergekippt. Mein Rachen brannte, bevor sich in meinem Magen ein angenehmes Wärmegefühl bemerkbar machte. Doch diese kleine Menge war nicht genügend gewesen, um den Schmerz und die Anspannung, die sich in mir breitmachen, zu betäuben. Ich brauchte mehr. Vielleicht nicht unbedingt Vodka pur, vielleicht einen süßen Cocktail, der mich mit einem plötzlichen Ruck ins Land der Leichtigkeit tragen würde.
Doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren, war wie versteinert, als hätte mich ein uralter Zauber getroffen. Mein Blick ruhte nach wie vor auf ihm und als würde er dies spüren, drehte er auf einmal den Kopf zu mir, fixierte mich mit seinen Augen, die in dem dunklen Licht bodenlos erschienen und nickte mir zu. In diesem Moment fühlte ich mich hilflos, schutzlos und ausgeliefert. In meiner dunkelblauen Jeansshort und dem schwarzen Tube-Top kam ich mir nackt, entblößt war, sodass mich Erleichterung durchströmte, als er sich wieder Diana zuwandte. Dennoch nagte das Unbehagen weiter an mir.
Ein Nicken. Mehr bekam ich nicht. Nach all dem, was passiert war, hatte er nur eine simple Kopfbewegung für mich übrig.
Und obwohl ich wütend, enttäuscht und traurig zugleich war, konnte ich es ihm nicht verübeln. Auf der sozialen Coolheitsskala- so nannte ich die Ordnung, die unseren Jahrgang in unterschiedliche Gruppen aufteilte- befanden wir uns in komplett unterschiedlichen Sphären. Ich hätte nur seinem Ruf geschadet.
Er und Diana, sowie ein paar weitere Personen, die hinter ihnen aufgetaucht waren, nahmen eine der Sitzgelegenheiten in Anspruch, sodass nun aus dieser Ecke des Öfteren schallendes Gelächter zu hören war. Bei diesem wurde mir speiübel, da es mich an so Vieles erinnerte, was ich eigentlich vergessen hatte wollen.
Ich wandte der Gruppe den Rücken zu und stiefelte in Richtung Bar, mit dem Vorsatz die Qualen der Vergangenheit in Alkohol zu ertränken.
YOU ARE READING
ESKALATION
Teen FictionEin letzter Abend, bevor sich alle trennen. Eine letzte Gelegenheit das Schweigen zu brechen und Gefühle zu offenbaren. Der Abschlussjahrgang trifft sich zum letzten Mal, bevor es alle in die verschiedensten Richtungen verschlagen wird, darunter auc...