Ich atmete tief die kalte Sommerluft ein. Sie duftete nach Tau und Grillnächten, nach Sommer und Leben. Sie spülte den Schwindel weg, sodass ich nach einigen Minuten- oder waren es mehr?- ohne Tims Stütze laufen konnte. Nun wankte ich nicht mehr oder lief Gefahr gegen einen Laternenmast zu laufen. Nichtsdestotrotz war ich noch benebelt, die Hemmschwelle ehrlich zu sein war niedrig und ich wusste, dass die Worte, die ich heute nicht sagte, nie ausgesprochen werden würden. Gemeinsam liefen wir durch die Dunkelheit, schweigend. Tim hatte seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, den Blick starr auf den Asphalt gerichtet. Ich hatte die Arme unter der Brust verschränkt und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Hier kannte ich mich nicht mehr aus. Vielleicht hatte ich auch keine Orientierung mehr, weil es dunkel war oder weil ich zu viel getrunken hatte, oder beides in Kombi führte dazu, dass ich mich etwas verloren fühlte. Warum hatte ich mich darauf eingelassen? Jetzt konnte ich nicht mehr zurück, selbst wenn ich eine Panikattacke bekommen würde. Ich war auf Tim angewiesen. Der mich gehalten und so oft fallen gelassen hatte.
Ich räusperte mich, doch keine Worte verließen meinen Mund. Tim sah mich an. »Was ist?«
»Nichts«, nuschelte ich und bereute sofort mich nicht getraut zu haben, meine Gedanken auszusprechen. Natürlich könnte ich dies ändern, doch mit jedem weiteren Schritt, mit jedem weiteren Atemzug, klärte sich mein Verstand und mein Mut zur Ehrlichkeit sank.
Doch ich riss mich am Riemen. Jetzt oder nie. Sonst würde ich es in einigen Jahren bereuen. Oder schon morgen.
»Warum bist du so?«, fragte ich ihn, »warum bist du so verachtend und zugleich auch sorgend. Warum bist du so ehrlich und doch sind es alles Lügen, die du erzählst. Warum stößt du denen, die dir gegenüber loyal sind einen Dolch ins Herz? Warum hast du mich so verletzt, dass ich keinen Stolz mehr besitze? Keinen Funken Anstand, der mich davon abhält, mich von dir fern zu halten, damit ich nicht noch mehr falle?« Tränen benetzten meine Wangen und ich schämte mich vor ihm zu weinen, ich schämte mich für meine Offenheit, für meine Verletzlichkeit. Ich war leichte Beute. Austauschbar, ersetzbar. In einem Moment fort und schon vergessen.
»Warum ich so bin? Du hättest mich genauso fragen können, warum ich atme«, schnaubte Tim und beschleunigte seine Schritte. Ich tippelte hinter ihm her. Verdammt, jetzt war er wütend auf mich, meine einzige Orientierung in dieser Nacht. Mir war kalt und mir war schlecht und mir war schwindelig und ich hatte Angst und ich wollte nur nach Hause. Doch alleine traute ich mich nicht. In diesem Zustand auf zwielichtige Gestalten zu treffen war mehr als gefährlich. Doch ich redete weiter, in der Hoffnung, das Gespräch noch retten zu können. Oder eher meinen Monolog.
»So meine ich das nicht«, entgegnete ich, »ich will einfach nur wissen, wer du wirklich bist. Der Tim, den ich auf dem Dach kennengelernt habe, der Tim aus der Theatergruppe, der Tim, der mich verletzt, der Tim, der mich nicht alleine nachts herumlaufen lassen will...wer bist du?«
»Ich bin jeder und niemand.«, murmelte er, »Ich bin der Junge, der sich vom Dach stürzen wollte, ich bin der Junge, der in jede Rolle schlüpfen kann. Ich bin derjenige, der Menschen verletzt und ich bin derjenige, der niemanden alleine lässt. Ich bin alles. Entweder man nimmt mich, wie ich bin oder man sollte mich vergessen«
Wie könnte ich ihn je vergessen? Wie könnte ich ihn je annehmen. Mit all den Eigenschaften, die ich bewunderte und verachtete. Wie war das möglich so vieles und doch nichts zu fühlen?
»Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte ich ängstlich. Die Situation überforderte mich und ich wusste nicht wohin mit meinen Abertausenden Gedanken, Abertausenden Gefühlen und Abertausenden Sinneseindrücken. Diesmal gab Tim mir eine Antwort . »Ich zeige dir das Nachtleben« Wir traten aus der Seitenstraße und befanden uns nun an einer stark beleuchteten Hauptstraße. Straßenbahngleise durchschnitten das grobe Pflaster und alle zwei Meter schien eine Bar zu sein, vor denen Raucher standen, meist mit einem Bier in der Hand und in den Momenten zwischen einem Zug und einem Schluck einige Worte wechselten.
»Bist du die ganz sicher, dass wir hier sein sollten?« Ich kam mir dämlich vor, wie ein kleines Kind, doch in der Nähe von so vielen Menschen zu sein, war mir mehr als unangenehm. Vor allem als junge Frau wurde man um diese Zeit dumm angemacht und wenn man Glück hatte, wurde einem nur hinterhergepfiffen.
»Ja Leslie, wir sind hier richtig«,sagte Tim und reckte den Kopf und sah sich suchend um. Nach was hielt er Ausschau? Doch dann wandte er sich mir zu. »Hake dich bei mir ein«
Ich befolgte seine Anweisung und ein Schauder durchlief mich, als er mich dicht zu sich heranzog. Der Körperkontakt gab mir die Sicherheit, die ich in dieser unübersichtlichen Situation brauchte.
Tim führte mich die Straße entlang und die Tatsache dass wir eng an eng liefen, schien mich für sämtliche männliche Wesen uninteressant zu machen. Das war mir nur recht. Schließlich traten wir in eine Bar, deren Pinke Leuchtreklame den Namen »Neon« zeigte. Die Einrichtung war modern und nur die Konturen der Stühle und Tische leuchteten in dem Schwarzlicht, dass meine hellen Haare leicht verfärbte. Die Musik hier war nicht allzu laut, sodass man sich gut unterhalten konnte, aber auch nicht zu leise, dass ein Schweigen unangenehm wäre. Tim nahm mich an der Hand und führte mich weiter in die Bar hinein. Viele der Tische, die mir bis zur Schulter reichten, waren bereits besetzt und ich fühlte die Blicke der Menschen auf meiner Haut. Ganz hinten schien unser Ziel zu sein und nun sah ich auch warum: Tims Clique war dort und diese exten mehrere Shots. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Kosmos verlassen hatten und nun an einem anderen Ort ihr Unwesen trieben. Als sie Tim sahen johlten sie erfreut auf. Die Jungs klopften ihn auf den Rücken, die Mädchen schmissen sich aufgrund ihres hohen Alkoholpegels Tim an den Hals. »Wir haben dich ja so vermisst« Ihr Tonfall erschien mir übertrieben und ich fragte mich, ob ich vorher auch so gewesen war. Es war peinlich, wenn man sich so offen betrunken verhielt und dann vermutlich am nächsten Morgen nicht mehr wusste, was man gesagt hatte. Doch zu meiner Schande musste ich gestehen, dass es bei mir nicht anders sein würde. Dabei hatte ich mir geschworen nie so tief zu sinken und meinen Prinzipien treu zu bleiben. Nun konnte ich nicht mehr ändern was geschehen war, doch die Nacht war noch jung. Zumindest für diejenigen, die sich hier aufhielten. Ich quetschte mich zu den Mädchen auf die Bank, während Tim sich einen Stuhl heranzog um sich zu setzen. Sofort war er in ein Gespröch vertieft während ich mit leeren Blick auf die Tischplatte starrte und nervös mit meinen Händen spielte. Wie sollte ich dieser Situation entkommen?
»Leute, ich geb ein paar Runden aus«, verkündete Leon stolz und erntete dafür Applaus. Keine Minute später stand ein Rundes Tablett auf dem Tisch. Zitronen, Salz Tequila. Jeder nahm sich ein Glas, auch ich, obwohl ich wusste, dass ich alles bitter bereuen würde.
»Lecken, Trinken Beißen«, wies Leon und an und auf drei leckten wir das Salz vom Handrücken, stürzten den Tequila hinunter und bissen in die Hälfte einer Zitronenscheibe. Ich schüttelte mich vor der Säure doch augenblicklich stieg mein Alkoholpegel wieder an.
»Schön, dass du auch da bist!«
Eine helle Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kopf nach rechts wandte sah ich, dass es Diana gewesen war, die mich angesprochen hatte. Ich nickte nur, beschloss aber dann doch mit ihr zu reden. »Seid ihr öfter hier?«, fragte ich.
Diana nickte aufgeregt. »Ja, hier gehen wir immer hin- diese Bar ist ein Geheimtipp. Und wenn du erst mal den Tanzraum gesehen hast, wirst du es lieben! Aber vorher müssen wir uns ordentlich die Kante geben« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und griff zu ihren zweiten Tequila-Shot und ehe ich mich versah hatte die auch mir einen in die Hand gedrückt und auf eins-zwei-drei wiederholte sich die ganze Prozedur. Mein Körper schüttelte sich bei der Abfolge der unterschiedlichen Geschmäcker- salzig, bitter, sauer. Doch dann breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus und sofort fühlte ich mich entspannter und nicht mehr so eingenommen von der Angst vor einer unbekannten Situation in einer unbekannten Gegend. Ich sah zu Tim herüber. Er lachte, legte den Kopf in den Nacken. Keine Spur mehr von dem ernsten jungen Mann, mit dem ich durch die Dunkelheit spaziert war. Sein Blick begegnete meinem und anstatt nun mich wegzudrehen, hielt ich ihm stand. Zu gerne würde ich jetzt wissen, was in seinem Kopf vorging!
Tim erhob sich und setze sich neben mich sodass ich nun zwischen ihm und Diana saß, die sich aber nun angeregt mit Leon unterhielt.
»Du scheinst dich ja doch ganz gut zu amüsieren«, stellte er fest. Ich nickte zustimmend. »Deine Clique ist doch nicht so übel und das hier«, ich deutete auf die bereits leeren Shot-Gläser, »trägt sehr dazu bei«.
»Weißt du«, sagte Tim mit gesenkter Stimme, »man verändert sich über die Jahre«
»Wie meinst du das?«, fragte ich und griff nach einem weiteren Shot den ich schnell hinterkippte.
»Man lernt aus seinen Fehlern und man wird von ihnen geprägt. Sie verändern einen- meist auf positive Weise, da man sieht auf was es wirklich ankommt«, erklärte Tim.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von deinen Leuten irgendwelche Fehler gemacht haben, die sie in komplett andere Menschen verwandelt haben«, meinte ich und sah den jungen Mann, der neben mir saß, fragend an.
Sein Blick wurde plötzlich sehr ernst, seine Stirn lag nun in tiefen Falten. »Nicht nur du hast früher was Grausames erlebt« Tims Blick wurde leer, als würde er sich an etwas erinnern. Mich traf die Erkenntnis wie ein Schlag, denn plötzlich wusste ich, worauf er anspielte. Und er wusste, dass er sich nun auf dünnem Eis bewegte. Er hatte etwas an die Oberfläche gezerrt, von dem ich geglaubt hatte, es weggesperrt zu haben. Von dem ich glaubte nicht mehr betroffen zu sein. Doch ehe ich mich versah, wurde ich in jenen November vor 3 Jahren zurückkatapultiert.
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ESKALATION
Teen FictionEin letzter Abend, bevor sich alle trennen. Eine letzte Gelegenheit das Schweigen zu brechen und Gefühle zu offenbaren. Der Abschlussjahrgang trifft sich zum letzten Mal, bevor es alle in die verschiedensten Richtungen verschlagen wird, darunter auc...