Da niemand, den ich kannte an der Bar stand- weder Ailin noch Jenny waren dort- setzte ich mich auf einen der hohen, mit schwarzen Leder überzogenen Hocker und bestellte meinen ersten Drink. Es begann harmlos. Ein Glas Hugo, süß und prickelnd, ein Cuba Libre, kalt und pappig, ein Caipi, sauer und fruchtig. Doch nach diesen drei Getränken, die ich sehr schnell geleert hatte und mich um einiges ärmer gemacht hatten, spürte ich einen Unterschied. Meine Gefühle waren nicht mehr so präsent, nicht mehr greifbar. Genau das, was ich gewollt hatte. Jedoch war auch mein Gleichgewichtssinn nicht mehr der Beste, sodass ich mehr schwankte als zu gehen, um draußen etwas frische Luft zu schnappen. Mein Ziel war es, einen etwas freieren Kopf zu bekommen um dann die zweite Runde zu starten. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich bewusst betrunken und dieser kleine rebellische Akt gegen meine Prinzipien ließ mich wie ein kleines Mädchen kichern.
Ich stolperte zum Ausgang und als ich die warme Sommerluft einatmete, verschwand ein Teil des Nebels, der meinen Verstand umhüllte. Und wieder fragte ich mich, warum ich diesen Ort nicht einfach hinter mir ließ und nach Hause ging. Schließlich war Jenny unauffindbar-wegen ihr hatte ich mich überhaupt hier blicken lassen- und es gab eigentlich nichts, was mich hier gehalten hätte. Wobei, dies entsprach nicht ganz der Wahrheit. Nach diesem Abend würde ich keinen von meinen Klassenkameraden wiedersehen. Heute war die Gelegenheit reinen Tisch zu machen, die letzten Geheimnisse zu lüften und alles Unausgesprochene zu sagen.
Und ich hatte noch eine Rechnung offen. Mit ihm.
Ich wollte gerade das Kosmos wieder betreten, als lautes Gelächter ertönte. Ich kannte dieses Lachen, das am lautesten erschallte. Schnell stellte ich mich wieder an meinen ursprünglichen Platz. Doch ich konnte hier nicht so regungslos verharren, denn ich war mir sicher, dass sie mich dann anquatschen würden. Das wäre zu viel und ich konnte es mir nicht leisten vor ihm...-
Einige Meter vor mir stand Samira mit ihrer Clique und sie rauchten. Samira und ich hatten in der neunten einige Tanzkurse belegt und sie war auch in der Oberstufe nett zu mir gewesen, auch wenn wir nur einen Kurs zusammen gehabt hatten.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging auf die fünf Personen zu. Sie musterten mich erstaunt und mit leicht piepsiger Stimme fragte ich: »Könnte ich vielleicht eine...«, ich deutete auf ihre Kippen, »haben?«
Samira runzelte die Stirn, da sie wusste, dass ich normalerweise nicht rauchte und es auch noch nie getan hatte (bis auf einen Zug auf einer Party). Jedoch sagte sie nichts und hielt mir eine Zigarette hin, die ich mir fachmännisch, wie ich es bei anderen gesehen hatte, zwischen die Lippen klemmte und schützend eine Hand davor hielt, als Samira diese anzündete.
»Danke«, nuschelte ich und unterdrückte den Drang zu husten. Der bittere Geschmack und der Rauch brannten in meinem Rachen.
Samira zuckte mit den Schultern. »Kein Ding«, meinte sie lachend.
Ich stellte mich wieder abseits und beobachtete die Eingangstür aus dem Augenwinkel. Eine Gruppe von sieben Leuten kam nach draußen gestolpert oder eher getorkelt und positionierten sich direkt vor der Tür. Eine Flucht nach drinnen war nun unmöglich.
»Hast du ihr Gesicht gesehen, Tim?«, gackerte Philipp und schlug Tim auf den Rücken. Als ich seinen Namen hörte zuckte ich zusammen und zog schnell an der Zigarette. Der heiße Rauch brannte in meiner Lunge und ich zwang mich ruhig stehen zu bleiben, wie ein unsichtbarer Schatten. So hatte ich die zehnte Klasse überlebt. Da war er, keine fünf Meter entfernt von mir. So nah und doch so unerreichbar.
»Ja, hab ich, das war nicht zu übersehen, dass sie mich angegafft hat«, lachte er und seine Stimme war erfüllt von wiederlicher Arroganz. Redeten sie etwa über mich?! In mir zog sich etwas zusammen, dass nicht mal der Alkohol hatte ersticken können. Mit zitternden Händen hielt ich die Kippe und beobachtete die Clique unauffällig.
Tim hatte sich, seit wir uns das letzte Mal auf dem Abiball vor vier Wochen gesehen hatten, stark verändert. Seine Haare waren zwar nach wie vor gut gestylt und von einem bronzefarbenen Braunton, jedoch trug er sie jetzt etwas länger. Ebenfalls war er nicht mehr glatt rasiert, was ihn nochmals um einiges älter aussehen ließ. Er war dünner geworden und trotz seiner Muskeln wirkte er mit dem schwarzen T-Shirt und der knielangen Jeans extrem mager. Seine Wangen waren eingefallen und unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab. Doch seine Iris strahlte nach wie vor in einem intensiven Blau.
Ich schluckte. Er sah fertig aus. Schlimmer als das letzte Mal.
Vor meinem inneren Auge blitzen Bilder auf, die ich zu vergessen versucht hatte. Vergebens. Das Geschehen an jenem eiskalten Novembertag hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt und eine blutige Wunde in meine Seele gerissen, die nur langsam verheilt war.
Doch jetzt, da ich ihn so reden hörte, riss alles wieder auf. Abertausende Gefühle stiegen in mir auf. Wut darauf, dass er so verachtend über andere sprach, Enttäuschung darüber, dass ich ihm trotz allem so gut wie gleichgültig zu sein schien, Mitleid, dass er immer tiefer zu sinken schien und Schuld. Bei letzterem musste ich mich ermahnen.
Es war nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld.
Dieses Mantra sagte ich mir innerlich auf, während ich weiter rauchte. Ich hatte es immer verabscheut, doch jetzt war mir jedes Mittel der Tarnung recht. Ein wohliger Nebel breitete sich in mir aus, den ich mit offenen Armen empfing. Endlich, dachte ich.
Und dann ließ ich mich davontragen, in eine düstere Welt, die sich Vergangenheit nennt.
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ESKALATION
Teen FictionEin letzter Abend, bevor sich alle trennen. Eine letzte Gelegenheit das Schweigen zu brechen und Gefühle zu offenbaren. Der Abschlussjahrgang trifft sich zum letzten Mal, bevor es alle in die verschiedensten Richtungen verschlagen wird, darunter auc...