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Eine qualvolle Sekunde lang passierte nichts. Panisch sah ich zu James, der ebenso ängstlich zu mir herunter blickte. Ironischerweise merkte ich erst jetzt, wie groß er mit eins sechsundneunzig gegenüber meinen ein Meter sechzig war. Die ganze Welt schien einen Moment lang still zu stehen. Einen Moment lang, in dem ich panisch meinen besten Freund ansah. Ich wusste, dass wir nicht in diesen Aufzug hätten steigen sollen. Und dennoch hatten wir es getan.
Verfickte Scheiße nochmal.
Ich schalt mich nicht einmal für den Fluch. Dafür war ich zu ängstlich, zu panisch. Klar denken konnte ich nicht mehr, mein Instinkt übernahm die Kontrolle, während mein Verstand vollkommen abschaltete.
Nicht real, nicht real, nicht real, redete ich mir in Gedanken immer wieder ein, während mein Körper einen Schritt auf James zu machte. „Jimmy", flehte ich, hörte mich an wie ein kleines Kind. Ein kleiner, naiver Teil im mir sagte, dass ich gestolpert sei, mir den Kopf angeschlagen habe. Gleich würde James ein Pflaster über meine aufgeschrammte Haut kleben und mir dann einen Kuss auf die Stirn geben. So, wie er es seit Anbeginn unserer Freundschaft tat, selbst im Erwachsenenalter noch.
Ich wachte nicht auf. Mein Verstand funktionierte noch immer nur teilweise, mein Körper hatte die Kontrolle übernommen. Es war, als wäre ich Zuschauer und Schauspieler zugleich. Das Schauspiel – Ich klammerte sich wimmernd an James, das Zuschauer – Ich analysierte die Lage.
Es kam zu dem Schluss, dass ich ziemlich verloren war. Der Aufzug wackelte. Das Schauspiel – Ich weinte. Es war beinahe komplett dunkel in dem winzigen Raum. Ganz leise drangen Stimmen und Geräusche nach oben. Eine weinende Frau, ein schreiendes Kind, das alles hörte man durch die dünnen Metallwände.
Und dann fing die Welt an, sich in Überschallgeschwindigkeit zu drehen. Der Fahrstuhl wackelte ein letztes Mal – dann ging es plötzlich rasant nach unten.
Vage hörte ich mich schreien, merkte, dass meine Fingernägel durch den dünnen Stoff von James' Hemd schnitten. Gleichzeitig spürte ich die Arme meines besten Freundes, die mich verzweifelt hielten. Spürte, wie meine Füße sich vom Boden lösten, nicht weit, aber dennoch ein bisschen. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich sterben würde. Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, um mit dem Beten anzufangen.
Während ich mein Gesicht zitternd gegen James' Brust drückte, dachte ich an Mom und die Gärtnerei, die sie nun wohl ohne mich führen musste. Ich dachte an Alayne, meine beste Freundin, die die gefälschte Rolex nun würde behalten müssen. An Derek, der seine Fälle nun alleine lösen musste, da sein Partner gerade mit mir zu Tode stürzte. Das ältere Ehepaar kam mir wieder in den Sinn, und dass ich nun nie würde Goldhochzeit feiern. Logan, wie ich ihn im Bett – in meinem Bett! - mit Marie erwischt hatte. James, der Logan eine verpasste. Ich erinnerte mich an Dad, der nun in New York wohnte.
Ob er wohl zu meiner Beerdigung kommen würde, obwohl Mom da wäre?
Ob er die letzten Worte, die er jemals zu mir gesagt hatte, bereuen würde?
Ob er sich überhaupt noch an diese Worte erinnern würde?
‚Du bist ein dummes Mädchen, Fay, so ein dummes Mädchen! Die Welt dreht sich nicht nur um dich! Denk doch mal an andere, du selbstverliebtes Miststück!'
Ob er sich daran erinnerte, was er mir antun wollte? ‚Das ist Michael. Du wirst ihn heiraten.'
Ob er sich daran erinnerte, wie er sich mir gegenüber benommen hatte?
Ob er sich daran erinnerte, dass er mich geschlagen hatte?
Zum ersten Mal in dieser Metallhölle, in der ich seit einer gefühlten Ewigkeit feststeckte, verspürte ich Genugtuung. Wenn ich starb, würde mein Vater wenigstens ein schlechtes Gewissen mir gegenüber haben. Hoffentlich.
Wir fielen noch immer. Ich schrie noch immer. James hielt mich noch immer, als würde es um Leben und Tod ging, als würde er an unserem Ende etwas ändern können. Meine Nägel bohrten sich noch immer in seinen Rücken, ich war mir sicher, dass mir bereits Blut über die Finger lief. Das einzige, was sich geändert hatte, war, dass sich die Zeit wieder verlangsamt haben zu schien.
Zeit ist etwas Lustiges. Vergeht schnell, wenn man glücklich ist, vergeht quälend langsam, wenn man traurig ist. Oder – wie in meinem Fall – in einem Aufzug auf seinen nahen Tod zurast. Vermutlich hatten wir noch nicht einmal ein Stockwerk zurückgelegt, und dennoch war ich mir sicher, dass in den nächsten paar Sekunden ein markerschütternder und tödlicher Aufprall erfolgen würde. Ich war mir sicher, sterben zu müssen.
Und dann hielt der Lift mit einem kräftigen Ruck an.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 18, 2016 ⏰

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