Sacrifice

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Zögerlich betrat Lilia das überschaubare Wohnzimmer, indem ihre Mutter nachts auf dem Sofa schlief, da das Geld für eine größere Wohnung nicht ausreichte. Kartons der Oma standen an einer kleinen Wand. In ihnen stapelten sich wichtige Papiere und Alben, welche aussortiert gehörten. Nach Lilias Einsicht dauerte es noch einige Minuten, bis sie sich zu einer Versöhnung und Entschuldigung überwinden konnte. Das war das Mindeste. Zwar hatte Lilia den Streit nicht begonnen, jedoch die Saat für das Übel gestreut, indem sie log.

Auf dem Teppich sitzend entdeckte Lilia ihre Mutter, die inmitten mehreren, verstreuten Fotografien saß und sich die verschiedensten, ausgeblichenen Schwarz-Weiß-Bilder anzugucken schien. Das schlechte Gewissen in Lilia vergrößerte sich, als sie ihre betrübte Mutter zu Gesicht bekam. Sie musste geweint haben, ihre Augen waren noch leicht glasig und die Wangen gerötet. Es brach Lilia beinahe das Herz, ihre Mutter so sehen zu müssen. Das letzte Mal bekam Lilia sie in der Verfassung zu Gesicht, als ihr Vater sie verlassen hatte. Zwar lag das bereits einige Jahre zurück, doch dieses Bild hatte sich in Lilias Gedächtnis eingebrannt.

„Mum?", kam es zögerlich über Lilias Lippen. Immer noch haderte Lilia mit den Worten, die ihr Verhalten erklären oder entschuldigen konnten.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Lilias Mutter nach oben, um ihrer Tochter zu signalisieren, dass sie sie sehr wohl wahrnahm. Der bitterere Teil kam jedoch, denn die Mutter strafte sie mit Missachtung und schwieg eisern. Stattdessen besah sie sich weiterhin die verstreuten Bilder, welche um sie herum lagen und aussortiert gehörten. Die Dicke Luft zwischen den beiden war beinahe greifbar, sie schien den ganzen Raum zu befüllen.

„Mama." Die erste stumme Entschuldigung, die sagen sollte, „Ich habe Mist gebaut." Der entschuldigende Blick sprach mehr als unzählige Bitten für Vergebung aus.

Susanne seufzte. Sie wusste, dass Lilia noch nie der Mensch war, der ihre Fehler freiwillig zugab. Immerhin hatte ihre Tochter bereits den ersten Schritt getan, Lilia war einen auf sie zugegangen, hatte die ersten Meter der Distanz überwunden. In der Vergangenheit hatte Susanne bereits genug Fehler gemacht, indem sie ihre Tochter zu oft vernachlässigt hatte. Natürlich war sie eine Mitschuldige an der Situation, aber vielleicht wäre diese Situation die, um einen Neustart zu wagen. Die alten Wunden würden nicht heilen, dessen war sie sich bewusst. Aber die Mutter würde sie zu flicken versuchen. Natürlich nur, wenn Lilia es so wollte. „Komm, setz dich zu mir." Mit einer fließenden Handbewegung klopfte sie auf den Platz neben sich.

Lilia hatte wirklich mit allen Reaktionen gerechnet. Auch, dass sich beide die Köpfe einschlagen würden. Jedoch nicht damit, dass ihre Mutter sie zu sich bitten würde. Ihr fiel gewaltiger Stein vom Herzen. Tränen schossen Lilia in die Augen, weil ihre Gefühle sie so zu überwältigen bedrohten. Es fiel ihr schwer, sich zu einem Lächeln abzuzwingen. Ihre Mutter hatte tatsächlich den nächsten Schritt getan. Wie sollte Lilia vorgehen, um die Atmosphäre nicht zu vergiften?

Zaghaft ließ sie sich neben ihrer Mutter nieder. Endlich bekam auch sie die Fotografien zu Gesicht, die ihre Mutter auszusortieren schien. Etliche Schwarz-Weiß-Bilder, die das Leben der verstorbenen Großmutter dokumentierten. Beinahe ehrfürchtig strich Lilia über das verjüngte Gesicht ihrer Oma, welche starr in die Kamera blickte. Der Blick der Oma war ernst. Die Gesichtszüge fast ausdruckslos. „Sie wirkt so traurig. Irgendwie lacht sie auf keinem der Bilder." Damit durchbrach sie die bedrückende Stille, die seit wenigen Minuten zwischen beiden herrschte.

„Das war damals normal. Die Kameras brauchten mehrere Sekunden bis Minuten, bis sie das Bild eingefangen hatten. Die Leute durften sich nicht bewegen, damit das Bild nicht verschwamm", erklärte die Mutter und reichte Lilia einen weiteren Abzug. „Das ist schön. Da sieht sie dir sehr ähnlich."

Never ending Fairytale - "...und sie lebten..."    Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt