7. Eine Nacht voll Schrecken

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Der Frühling kam und es wurde wieder wärmer. Der Schnee auf den Ländereien schmolz und von den Bergen rund um Hogwarts floss das getaute Wasser in Sturzbächen ins Tal, sodass der Wasserspiegel des schwarzen Sees erheblich stieg und die nahe Umgebung unter Wasser setzte. Es begann wieder Spaß zu machen, noch vor dem Frühstück einen Spaziergang auf den Ländereien zu machen und im Unterricht die Fenster zu öffnen und Lillyan freute sich riesig darüber, endlich wieder an ihrem Lieblingsplatz unter dem großen Baum am See Hausaufgaben machen zu können. Im Schulgarten sprießten bereits die ersten Pflänzchen, sehr zur Freude von Hagrid, und auf dem gesamten Schulgelände blühten Blumen in den verschiedensten Farben. Die Einzigen, die sich von der fröhlichen Stimmung nicht anstecken ließen, waren die Lehrer. Langsam aber sicher begann das zweite Halbjahr und sie gaben so viele Hausaufgaben, dass die Schüler oft den ganzen Abend und teilweise bis in die Nacht hinein arbeiten mussten, um danach todmüde ins Bett zu fallen. Lillyan hatte wirklich Glück, dass sie so ein Naturtalent war, denn so gingen ihr Aufgaben leicht von der Hand, bei denen andere beinahe verzweifelten. Nach einer besonders schwierigen Zaubertrankstunde, in der es aus der ganzen Klasse nur Lillyan gelungen war, einen perfekten Trank zur Beschleunigung des Wachstums herzustellen, war Lillyan gerade auf dem Weg hinauf in den Gemeinschaftsraum, als ihr im vierten Stock Lily begegnete. „Hey!" begrüßte sie sie erfreut. „Hi" gab Lily zurück und zusammen stiegen die beiden die restlichen Treppen hinauf. „Und, alles okay?" erkundigte Lillyan sich. „Ja, schon soweit." Lily seufzte. „Ich hatte nur gerade Zauberkunst und James Potter hat mich die ganze Zeit über genervt. Dieser Typ ist echt unausstehlich! Ich kann einfach nicht verstehen, wie du freiwillig mit seinen Freunden befreundet bist!" „Besten Dank auch, Evans!" erklang da mit einem Mal eine Stimme hinter ihnen. Sirius. Ausgerechnet. Er lief hinter ihnen die Treppe hinauf und hatte ein übermütiges Feixen aufgesetzt. In letzter Zeit war er unglaublich gut gelaunt, um genauer zu sein, seit ein paar Tagen nach Ende der Weihnachtsferien. Lillyan hatte gerade in einer verborgenen Nische neben einem Fenster im fünften Stock gesessen, als mit einem Mal Sirius ohne sie zu bemerken an ihr vorbeigerannt war und Remus, der gerade in diesem Moment aus einem gegenüberliegenden Klassenzimmer gekommen war, voller Elan zugerufen hatte: „Es ist soweit!" Er war förmlich übergesprudelt vor Begeisterung und zusammen mit Remus so schnell wie möglich davongeeilt. Lillyan hatte nicht das Bedürfnis gehabt, die beiden heimlich zu beschatten, deshalb hatte sie es sich einfach aus dem Kopf geschlagen. Und siehe da, seit diesem Tag benahmen sich Sirius und Remus wieder völlig normal. Keiner von beiden verschwand mehr unauffindbar oder tuschelte hinter ihrem Rücken mit seinen Freunden, bis auf Remus, der noch ein paar Mal für einige Tage fehlte. Ganz plötzlich war alles wieder wie früher, vielleicht mit dem Unterschied, dass sowohl Remus und Sirius als auch James Potter und Peter Pettigrew seit diesem Tag auffällig gut gelaunt und übermütig waren. Ihr vorheriges seltsames Verhalten war bei Lillyan schon bald in Vergessenheit geraten, sie war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die riesigen Berge an Hausaufgaben zu bewältigen, die die Lehrer ihnen jeden Tag aufbrummten. „Oh, Sirius! Hi." Lillyan wandte sich zu ihm um und lächelte, als sie sein Grinsen sah. Es tat gut, Sirius in bester Stimmung zu sehen, seine strahlenden Augen zu sehen hob ihre Stimmung jedes Mal wieder beträchtlich. „Hey, Lilly-An." Sirius' Grinsen wurde noch breiter und er beschleunigte sein Tempo, sodass er neben den beiden herlief. „Und, viele Hausaufgaben?" „Wie immer." Lillyan lachte und übersprang eine Stufe. „Aber ich schaffe das in Rekordzeit." „Davon bin ich überzeugt." Antwortete Sirius ohne den geringsten Zweifel in der Stimme. „Ich wünschte, ich würde das alles auch nur halb so schnell hinkriegen wie du!" Lily stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Gestern saß ich schon wieder bis Mitternacht dran, während du um neune schon fertig warst!" Lillyan zuckte übermütig die Schultern und bog schwungvoll in den Korridor ein, indem der Eingang zum Gryffindorgemeinschaftsraum lag. „Passwort?" quäkte die fette Dame. „Non sempere a sunt, quae videntur." Sagte Lillyan und das Portrait klappte zur Seite. „Was heißt das eigentlich?" erkundigte sie sich bei Sirius, als sie durch das Portraitloch kletterte. „Frei übersetzt so etwas wie „Nichts ist so, wie es scheint."" Antwortete Sirius und folgte ihr. „Woher weißt du das?" wollte Lily wissen, jedoch sichtlich widerstrebend, weil sie dazu mit Sirius reden musste. „Ach Evans, seit wann sprichst du denn mit mir?" zog Sirius sie auf, was ihm prompt einen Todesblick von Lily einbrachte. „Meine Mutter hat es mir beigebracht." Erklärte er schließlich und verzog das Gesicht, als hätte gerade in etwas sehr Bitteres hineingebissen. Erstaunt blickte Lillyan auf. Normalerweise verlor Sirius äußerst ungern auch nur ein Wort über seine Familie, das Einzige, was Lillyan über sie wusste, hatte Remus ihr einmal erzählt, als Sirius nicht dabei gewesen war. Daher wusste sie, dass Sirius, weil seine ganze Familie in Slytherin gewesen war und er nicht, zu Hause als Verräter gesehen wurde, ansonsten hatte sie jedoch nie etwas von Sirius persönlich über seine Familie erfahren. Als wäre ihm das eben wieder eingefallen, biss er sich auf die Lippe und sagte nichts mehr, bis sie sich an der Türe zu den Schlafsälen trennten. „Und, was machst du heute noch? Oder gehst du gleich schlafen?" erkundigte Lillyan sich und schaute ihn an. „Ich weiß noch nicht." Mit einem leicht überheblich wirkenden Gesichtsausdruck, der für ihn jedoch nichts Ungewöhnliches war, strich Sirius sich das Haar aus der Stirn. „Ich denke, nach all den Hausaufgaben wird nicht mehr viel Zeit übrig bleiben. Wir sehen uns ja morgen wieder, okay, Lilly-An?" „Okay." Lillyan lächelte ihm noch einmal zu und folgte dann Lily die Treppe zu den Mädchenschlafsälen hinauf. In ihrem Schlafsaal angekommen warf sie ihre Tasche neben das Bett und ihren Umhang in ihren Schrank. Aus irgendeinem Grund war ihr heute war ihr ganz und gar nicht nach Ordnung halten zumute. Genervt in Hinsicht auf die viele Arbeit, die da auf sie zukam, öffnete sie ihre Tasche und zog ihre Feder, ein paar Bögen Pergament und einen Stapel Bücher daraus hervor. Der Aufsatz für Zaubertränke über Tränke zur Veränderung der äußerlichen Erscheinung würde ein kompliziertes Unterfangen werden und auch eine Menge Zeit in Anspruch nehmen. Vielleicht war es besser, gleich damit anzufangen. Mit einem tiefen Seufzer schraubte Lillyan ihr Tintenfass auf, tauchte ihre Feder ein und begann zu schreiben. Es dauerte lange, bis sie fertig war. Ungefähr eine Stunde, nachdem sie mit den Hausaufgaben begonnen hatte, kamen auch Emily, Mary und Olivia hoch in den Schlafsaal und begannen mit den Hausaufgaben und eine weitere halbe Stunde später schneite Lily herein und erkundigte sich, ob sie alle gut vorankamen. Schließlich erbarmte sie sich, der völlig ratlosen Olivia zu helfen, die wegen eines Aufsatzes in Muggelkunde bereits am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Trotz aller Mühe war es nach zehn Uhr, als auch die Letzte allmählich fertig wurde. „Oh Mann, ich kann nicht mehr!" stöhnte Olivia schließlich, warf ihre Feder in die Ecke, wo sie einen hässlichen Tintenfleck an der Wand hinterließ, und ließ sich übermüdet auf ihr Bett fallen. „Also für mich ist jetzt definitiv Schluss mit lustig Leute, ich geh schlafen." „Ich auch." Schloss Lily sich ihr an, gähnte und stand auf, um in ihren eigenen Schlafsaal zu gehen. „Gute Nacht, Mädels!" „Ciao, bis morgen." Antwortete Lillyan, während sie ihre Schulsachen in ihre Tasche zurückräumte und den Tintenfleck, den Olivia an die Wand praktiziert hatte, mit einem schnellen Schlenker ihres Zauberstabs verschwinden ließ. Als die Tür hinter Lily ins Schloss gefallen war, breitete sich Stille im Schlafsaal aus. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach, während sie ihre Schulsachen zusammenpackten, sich umzogen und dann eine nach der anderen ins warme Bett schlüpften. „Ah, ist das herrlich!" seufzte Emily glücklich uns streckte sich unter der Bettdecke aus. „Am Liebsten würde ich nie wieder aufstehen! Vielleicht sollte mich mal jemand im Bett festhexen, dann ginge das auch gar nicht mehr!" „Erinnere mich Morgen daran, vielleicht erfülle ich dir deinen Wunsch ja dann." Meinte Olivia schläfrig und warf, wie jeden Abend, einen verärgerten Blick zum Mäusestall hinüber, in dem die beiden Mäuse Pamela und Paula im Stroh herumraschelten. ‚Wenigstens beschwert sie sich jetzt nicht mehr darüber!' dachte Lillyan und kuschelte sich in die gemütlichen Kissen. „Könnt ihr Beiden Mal leise sein? Ich will schlafen!" maulte Mary unter ihrem Kissen hervor und drehte sich auf die andere Seite. Den anderen gefielen ihre Worte zwar nicht sonderlich gut, aber da keine von ihnen einen Streit vom Zaun brechen wollte, blieben sie einfach stumm. Schon bald war nichts mehr zu hören bis auf den gleichmäßigen Atem, der aus den Betten von Emily, Mary und Olivia drang. Nur Lillyan konnte einfach nicht einschlafen. Wütend, weil so müde war und trotzdem nicht schlafen konnte, warf sie sich von einer Seite auf die andere, aber es half alles nichts. Irgendetwas war seltsam heute Nacht, das konnte sie spüren. Ein Gefühl schleichenden Unbehagens machte sich mehr und mehr in ihr breit. Sie wusste selbst nicht so genau warum aber sie war sich sicher, dass es ihr unter diesen Umständen auf keinen Fall möglich sein würde einzuschlafen. Mit einem leisen Stöhnen setzte sie sich auf, schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Augenblicklich war sie hellwach. Leicht verwirrt über diesen plötzlichen Gefühlswechsel tapste sie über den Boden zu ihrem Schrank hinüber und zog sich lautlos wieder an. Ihr Kopf war ein wenig benebelt und erschöpft und sie wusste ganz genau, an welchen Ort sie gehen musste, um sich davon ein wenig zu erholen. Viel zu lange schon hatte sie sich nicht mehr bei Nacht aus dem Schloss geschlichen. Im Winter war es einfach zu kalt gewesen und in letzter Zeit war sie jeden Abend todmüde ins Bett gefallen, doch jetzt schoss ihr bei dem bloßen Gedanken daran, endlich Mal wieder ein kleines Risiko einzugehen, das Adrenalin ins Blut. Sie war nicht wie Sirius, der es als Abenteuer empfand die Schulregeln zu missachten und sich dadurch immer wieder selbst in die Zwickmühle brachte, aber trotz allem brauchte sie doch auch manchmal etwas Abwechslung vom Alltag. Wie ein Geist huschte Lillyan aus dem Schlafsaal, die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum, der zum Glück um diese Zeit menschenleer war, stieß vorsichtig das Portraitloch auf und kletterte durch die Öffnung hinaus in den Gang. Mit angehaltenem Atem schaute sie sich um. Sie war allein. Gut so! Gerade, als sie den ersten Schritt tun wollte, schwang das Portrait mit einem Mal wieder zurück und die Stimme der fetten Dame durchschnitt die Stille wie eine Alarmanlage. „Wohin so eilig, junges Fräulein?" rief sie mit erhobener Stimme und hob erzürnt den Zeigefinger. Oh nein. Das hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt, dass ausgerechnet die fette Dame ihr in die Quere kam. Ergeben drehte Lillyan sich um, in der Hoffnung, ihr Gegenüber friedlich stimmen zu können, das indessen wütend fortfuhr: „Ich warne dich, wenn du..." „Psssst!" zischte Lillyan und hob den Finger an die Lippen. Die fette Dame klappte den Mund zu und legte misstrauisch den Kopf schräg. „Was hast du vor?" wollte sie nun in einem etwas leiseren Tonfall wissen. „Es ist verboten, sich nachts auf den Gängen von Hogwarts herumzutreiben, und deine Aufmachung sieht mir aber gar nicht danach aus, als wärst du auf dem Weg ins Badezimmer!" „Bin ich auch nicht." Gab Lillyan zu und rieb sich nervös die Nase. „So? Was hast du dann vor?" forschte die fette Dame weiter und runzelte verärgert die Stirn. „Du weißt, dass ich solch einen Verstoß gegen die Regeln eigentlich nicht erlauben darf!" „Ja ich weiß, aber ich bin einfach so... erschöpft in letzter Zeit, mein Kopf dröhnt vom vielen Arbeiten und ich brauche jetzt einfach ein bisschen frische Luft!" bittend schaute sie die fette Dame an. „Ich werde nichts anstellen, versprochen. Nur ganz kurz frische Luft schnappen gehen!" „Es ist kein Wunder, dass dein Kopf dröhnt, wenn du nachts nicht schläfst sondern durch die Gänge geisterst, Kind!" meinte die fette Dame störrisch, aber unter Lillyans bettelndem Hundeblick wurde sie schließlich weich. „Na gut, geh schon, ich habe dich nicht gesehen." Murmelte sie wiederwillig. „Aber allerspätestens in einer halben Stunde bist du wieder hier und wenn du erwischt wirst, geht das auf dein Konto!" rief sie Lillyan noch hinterher, die mit einem erleichterten „Dankeschön!" entflohen war, bevor die fette Dame hatte ausreden können. Beschwingt durch ihren Sieg schlich sie sich so leise und schnell sie konnte durch die Gänge und Flure von Hogwarts, bis sie schließlich ungesehen das Schlosstor erreichte. „Ha!" triumphierte sie leise, zückte ihren Zauberstab und flüsterte: „Alohomora!" Das Tor schwang mit einem Quietschen auf und Lillyan ging hindurch, hinaus auf die Ländereien von Hogwarts. Die Dunkelheit legte sich um sie wie ein seidiger Umhang und ein leichter Windstoß zerzauste ihre Haare. Die Ländereien waren verlassen, nichts regte sich. Am sternklaren Himmelszelt stand groß und bleich der Mond. Vollmond. Lillyan fröstelte. Obwohl es Frühling war, wurde es nachts noch immer unangenehm kalt und sie ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie sich nicht noch eine wärmere Jacke mitgebracht hatte. Naja egal. Die Hauptsache war, dass sie draußen war. Irgendwo der Ferne schrie ein Käuzchen und ein paar Fledermäuse flogen dicht über ihren Kopf hinweg. Ein kleines Lächeln schlich sich in Lillyans Mundwinkel, als sie ihnen hinterherschaute. In Gedanken versunken schlenderte sie vom Schloss fort in Richtung des Waldes, dessen hohe Baumkronen sich schwarz gegen den dunklen Nachthimmel abhoben. In ihrem Inneren herrschte eine seltsame Stimmung, sie war sich nicht sicher, ob sie glücklich oder traurig sein sollte. Um ihre Freundschaft mit Sirius und Remus stand es zurzeit besser den je, und doch tat es ihr weh zu wissen, dass Sirius sie lediglich als beste Freundin zu betrachten schien. Sie hatten viel miteinander zu tun und doch war es Lillyan noch nicht genug. Das heftige Klopfen ihres Herzens, wenn er in der Nähe war, hatte nicht nachgelassen, im Gegenteil. Seine bloße Anwesenheit machte sie kribbelig und ausgelassen, aber sein Verhalten in ihrer Gegenwart war das gleiche, das er bei James Potter an den Tag legte. Er mochte sie, doch offensichtlich nur freundschaftlich. Lillyans Herz zog sich schmerzhaft zusammen und sie seufzte leise. Es half doch alles nichts, allmählich sollte sie sich damit abfinden. Niedergeschlagen hob sie den Kopf und blieb stehen. Sie hatte gar nicht darauf geachtet, wo sie hingegangen war und unabsichtlich in Richtung der Peitschenden Weide gelaufen. Erleichtert darüber, dass sie es noch rechtzeitig bemerkt hatte, bevor sie dem Baum zu nahe gekommen war, schlug Lillyan den Weg ein, der zu Hagrids Hütte führte, doch mit einem Mal hörte sie etwas, das sie vor Schreck erstarren ließ. Ein lautes, durchdringendes Heulen drang an ihre Ohren, hallte schauerlich durch die nächtliche Leere des Geländes. Und es kam nicht aus dem Wald. Es kam ganz aus ihrer Nähe. Oh nein. Lillyan spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Verdammt. Natürlich hatte sie gewusst, dass im verbotenen Wald Werwölfe lebten, aber sie hatte gedacht, dass diese im Wald blieben und nicht auf das Schulgelände kamen. Konnte das sein? War da etwa wirklich ein Werwolf ganz in ihrer Nähe? Allein bei dem Gedanken begann Lillyan am ganzen Körper zu zittern. Sie umklammerte ihren Zauberstab fester, aber im Stillen wusste sie, dass dieser ihr nichts helfen würde. Zwar kannte sie viele Zaubersprüche, doch hatte sie keinen blassen Schimmer, welche Zauber gegen Werwölfe wirkten. Sie bezweifelte, dass überhaupt einer wirken würde. Werwölfe, sowie auch Riesen und viele andere magische Wesen waren immun gegen die meisten Zaubersprüche und Flüche. Reglos wie eine Statue verharrte Lillyan an der Stelle wo sie stand und lauschte angestrengt. Kein Heulen, kein Schnüffeln, kein Zweigeknacken. Unsicher schaute sie sich um. Nichts. Vielleicht hatte sie sich das Heulen ja auch nur eingebildet. Trotzdem. Zur Sicherheit sollte sie schnellstens auf direktem Wege zum Schloss zurückkehren. Lillyan drehte sich auf dem Absatz um und ging mit schnellen, ruhigen Schritten in Richtung Schloss zurück, ohne sich noch einmal umzuschauen. Es dauerte nicht lange und sie hatte die Peitschende Weide hinter sich gelassen und strebte nun dem Schlosstor entgegen. Gerade, als sie schon erleichtert aufatmen wollte, erklang hinter ihr mit einem Mal ein Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein leises, bedrohliches Knurren. Alle kleinen Härchen im Nacken stellten sich bei diesem Geräusch auf. Lillyan schrie auf und wirbelte herum. Ein paar Meter vor ihr auf der taufeuchten Wiese stand eine grauenerregende Kreatur. Sie war von Kopf bis Fuß mit kurzem, hellbraunen Fell bedeckt, hatte lange, knochige Gliedmaßen und kauerte auf zwei Beinen auf der Wiese, den Blick aus den großen, glänzenden Augen fest auf Lillyan gerichtet. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas Derartiges leibhaftig gesehen, doch sie erkannte die Kreatur aus ihren Büchern. Oh nein. Oh nein, bitte nicht. Stumm vor Entsetzen wich sie einen Schritt zurück, doch das hätte sie lieber nicht tun sollen. Der Werwolf richtete sich zu seiner vollen Größe auf und riss mit einem lauten Brüllen das lange Maul auf, sodass man seine scharfen Reißzähne sehen konnte, von denen der Speichel tropfte. Aus Lillyans Kehle drang ein ersticktes Geräusch, Panik überflutete sie. Weglaufen half nicht, soviel war sicher, und sie war noch weit genug vom Schloss entfernt, dass niemand sie hören konnte. Außerdem wäre sie, wenn sie anfangen würde zu schreien, wahrscheinlich so schnell tot, dass es ihr überhaupt nichts nützen würde. Benommen stand sie da und starrte den Werwolf an, der ein erneutes Knurren ausstieß und sich dann langsam an sie heranpirschte, während sie nicht im Stande war, auch nur einen Muskel zu bewegen. ‚Sirius' dachte Lillyan, während alle anderen Gedanken vor Entsetzen wie gelähmt waren. Ob er je erfahren würde, was mit ihr passiert war? Wie würde er damit zurechtkommen? Und was war mit Remus? Und Lily? Der Werwolf kam näher und Lillyan konnte ein angstvolles Stöhnen nicht unterdrücken. Blitzartig kauerte sich der Werwolf vor ihr zusammen und setzte zum Sprung an. Erneut schrie Lillyan auf vor Entsetzen, riss reflexartig den Arm vor ihr Gesicht und hechtete zur Seite. Der harte Aufschlag auf dem trockenen Erdboden nahm ihr den Atem, stechender Schmerz fuhr ihr in die Seite und ein unterdrückter Schmerzenslaut schabte sich durch ihre Kehle. Als sie wie in Trance aufschaute und ihr Blick den des Werwolfs traf, wusste sie, dass es zu spät war. Todesangst schoss durch ihre Glieder und lähmte sie in diesem furchtbaren Augenblick. In dem Moment jedoch erklang plötzlich noch ein anderes, wütenderes, wildes Knurren und ein riesiger schwarzer Schatten sauste aus dem Gestrüpp neben der Peitschenden Weide. Schneller, als Lillyan auch nur die Möglichkeit hatte, überrascht zu blinzeln, stürzte er sich zwischen sie und den Werwolf. Die Augen vor Schreck geweitet sah Lillyan, wie der Schatten den Werwolf vor die Brust stieß und heftig zurückdrängte, dann machte er einen Satz rückwärts, baute sich vor Lillyan auf und knurrte den Werwolf mit einem tiefen, drohenden Grollen an. Seine Nackenhaare sträubten sich und er fletschte die Zähne. Verwirrt und verängstigt huschte Lillyans Blick von einem zum anderen und plötzlich verstand sie: Der Schatten beschützte sie! Er stand in Angriffshaltung vor ihr, als wäre er jederzeit bereit, den Werwolf davon abzuhalten, ihr etwas anzutun. Völlig durcheinander beobachtete Lillyan, wie der Werwolf einen erneuten Versuch startete und der schwarze Schatten ihn kraftvoll zurückschleuderte. Wahrscheinlich hätte sie die Chance ergreifen und weglaufen sollen, doch sie konnte nicht. Ihre Füße waren wie festgenagelt. Der Werwolf schlug mit der Pfote zu und der Schatten stieß ein schrilles Jaulen aus, das Lillyan im Herzen wehtat. Blut lief aus einer offenen Wunde auf der Stirn des Schattens, der das jedoch gar nicht weiter beachtete sondern aus schmalen Augen den Werwolf fixierte. In dem Moment, in dem dieser erneut zum Angriff ansetzte, erklang plötzlich das laute Wummern von Hufen auf Gras und ein zweiter Schatten schoss aus dem Gebüsch hervor. Es war so dunkel, dass Lillyan nur wenige Einzelheiten erkennen konnte, doch an dem riesigen Geweih und den Hufen erkannte sie, dass es ein Hirsch war. Noch bevor der Werwolf dazu im Stande war, den Hirsch zu bemerken, stürzte dieser sich auf ihn, senkte den gewaltigen Kopf und schob den Werwolf mit seinem beeindruckenden Geweih in Richtung Wald davon. Der Werwolf wehrte sich zwar, aber gegen die Kraft des Hirsches hatte er keine Chance. Es vergingen keine zehn Sekunden, dann verschwanden die beiden im Wald und blieben verschwunden. Die plötzliche Stille dröhnte in Lillyans Ohren und stach auf ihren Kopf ein. Sie stöhnte leise auf und griff sich an die Stirn. Der Schatten drehte sich um. Sein schwarzes Fell schimmerte sanft und das Blut, das aus seiner Stirnwunde lief, tropfte auf das taufeuchte Gras zu seinen Pfoten. Lillyan sah ihn an und begriff mit einem Mal, dass es ein Hund war, ein riesiger, schwarzer Hund. Sie hatte nicht gewusst, dass Hunde so groß sein konnten. Der Hund hob den Kopf und schaute sie an. Im Mondlicht glänzten seine dunklen Augen wie Onyxe. Sein Blick war besorgt und schützend, als er den ihren traf. Langsam kam er einen Schritt auf sie zu und legte leicht den Kopf schief. In seinen Augen stand eine Frage. „Keine Sorge, mir geht es gut." Stieß Lillyan entkräftet hervor und stützte sich mit den Händen ab, als sie wieder vom Boden aufstand. Ihr wurde ein wenig schwindelig, aber sie ignorierte das und schaute erneut den Hund an. Dieser erwiderte ihren Blick ernst und trat dann einen Schritt zurück. „Danke." Flüsterte Lillyan heiser. Er neigte leicht seinen großen Kopf und sah sie noch einen Moment lang aufmerksam an, dann wandte er sich um und jagte mit großen Sprüngen davon, dem Wald entgegen. Erst, als auch er zwischen den Bäumen verschwunden war, regte Lillyan sich wieder. Auch wenn in ihrem Kopf alles durcheinanderwirbelte, eines wusste sie: Sie musste so schnell wie möglich ins Schloss zurückkehren. Wie von alleine bewegten sich ihre Füße, Lillyan wirbelte herum und rannte in Richtung Schlosstor davon, als sei der Werwolf noch immer hinter ihr her.

Das Geheimnis der ersten Auroren- Die Abenteuer von Lillyan WhiteleyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt