1. Nacht - 01:00 Uhr

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Ich wusste im Nachhinein wirklich nicht, wie Luna es geschafft hatte, mich dazu zu überreden, mitten in der Nacht mit einer Fremden Muffins zu futtern. Es musste an ihrer einnehmenden Art liegen. Jetzt, eine Stunde später, stopfte sie schon den dritten dieser kleinen, mit reichlich Zuckerguss bestrichenen, Kalorienbomben genießerisch in sich hinein, obwohl ich überhaupt keinen Hunger auf einen Mitternachtsimbiss hatte und einfach nur müde war. Normalerweise schlief ich nachts ja auch und aß keine Muffins. Was war bloß schiefgelaufen? Oder träumte ich das alles hier etwa doch? Nach einem Zwicken in meinen Oberarm hatte ich meine Antwort: Das hier war kein Traum. Kaum noch konnte ich meine Augen offenhalten und der einzige Grund, warum ich nicht sofort auf meiner Couch umkippte und sabbernd und schnarchend einschlief, war Luna. Ich konnte sie nicht einfach so aus den Augen lassen, obwohl ich mittlerweile nicht mehr dachte, dass sie irgendetwas Bestimmtes von mir wollte. Abgesehen von meinen Muffins natürlich. Dennoch fragte ich mich schon die ganze Zeit, was sie hier - ausgerechnet bei mir - suchte.
Ein lautes Schmatzen riss mich aus meinen Überlegungen. Mittlerweile war Luna bei Nummer vier der Muffin-Opfer ihrer nächtlichen Fressattacke angelangt und gab immer wieder ein "Hmmmm", "Gott, ist das lecker!" oder ein "Das hab ich ewig nicht gegessen!" von sich. Seltsam. Wenn sie Kuchen und Muffins so sehr liebte, müsste sie sie doch fast täglich essen, oder? Zumindest hätte ich das getan, weil ich in solchen Sachen einfach absolut keine Disziplin hatte. Äußerst kurios...
Aber was wusste ich schon? Ich kannte Luna ja erst seit knapp einer Stunde.

Irgendwann musste ich aber wohl doch eingeschlafen sein, denn als ein verirrter Sonnenstrahl mich unbarmherzig aus dem Schlaf riss, fand ich mich auf meiner Couch wieder. Mein Arm ragte über den Rand dieser hinaus und berührte den Boden, außerdem hatte sich ein unangenehm feuchter Fleck unter meiner Wange gebildet, den ich angewidert mit dem Ärmel abwischte, als ich mich aufsetzte. Aus der Küche drangen laut rumpelnde Geräusche, die mich aber seltsamerweise nicht in meinem Schlaf gestört hatten. Erst erschrak ich und fragte mich, wer oder was das verdammt nochmal war, aber dann dachte ich daran, dass Luna vielleicht noch hier war. Gähnend stand ich auf und machte mich auf den Weg in meine Küche. Kaffee. Den brauchte ich jetzt ganz dringend, obwohl ich ihn meistens nur mit einem Liter Milch und einer Wagenladung Zucker runterbekam. Menschen, die ihn schwarz tranken, hatten meiner Meinung nach bereits ihre Geschmacksknospen mit dem Zeug abgetötet. Schlaftrunken schlurfte ich zur Kaffeequelle, aus deren Richtung mir bereits köstlich riechende Duftschwaden entgegenkamen.
"Morgen, Schlafmütze!", begrüßte mich tatsächlich Luna, die sich am Herd zu schaffen machte. Ihr kurzes, schwarzes Haar war zerzaust, aber die ganze Schminke in ihrem Gesicht hatte sie sich offensichtlich entfernt. Wie viele Tonnen von meinen Abschminktüchern sie wohl verbraucht hatte?
"Hm", war meine nicht sehr ausschweifende und wortreiche Antwort. Jaja, ich gehörte auch zur Spezies der Morgenmuffel. Ich stellte die Kaffeemaschine an und während ich wartete, dass der Kaffee durchlief, da meine Maschine noch uralt und kein Vollautomat war, sah ich Luna beim Kochen zu.
"Machst du etwa Pancakes?!", fragte ich mit plötzlich auftretender Begeisterung. Die Aussicht auf Pancakes vertrieb meine Morgenmuffeligkeit schneller, als es der Kaffee jemals geschafft hätte.
"Jup", war die stolze Antwort von Luna, die anscheinend den letzten der Pancakes auf einen Teller schichtete und den Herd ausstellte. Ich fackelte nicht lange und nutzte meine Chance.
"Hey, nicht so stürmisch!", rief mir Luna amüsiert lachend hinterher, als ich mit dem vollen Teller davonstürmte und mit einem letzten Rest Vernunft noch einen zweiten Teller und Besteck aus dem Schrank mitnahm. Schnell stellte ich alles auf den Küchentisch und setzte mich schon hin um den ersten der pfannigen Kuchen auf meinen Teller zu ziehen. Ich runzelte gerade meine Stirn, weil etwas fehlte, als Luna auch schon ein Glas Apfelmus vor mir abstellte. Ich bestrich meinen Pancake hastig damit und stopfte mir dann das erste Stück genüsslich seufzend in den Mund. Luna betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem fetten Grinsen im Gesicht.
"Hmm... Du bisch eine Göschin", nuschelte ich brummend, ohne von meiner Lebensessenz wegzusehen.
"Nicht ganz.", murmelte sie leise lachend, nahm sich noch einen Teller und setzte sich ebenfalls an den Tisch um zu essen.
Ich hörte ihr jedoch nur mit halbem Ohr zu. Meine Konzentration lag nämlich voll und ganz bei meinem Essen.

Eine halbe Stunde später hingen wir vollkommen satt in unseren Stühlen und ich hatte das Gefühl, dass wenn ich jetzt aufstand, ich einfach platzen und ganz viele Mini-Pancakes aus meinem Bauch fliegen würden. Die Vorstellung dieser nicht naturgemäßen Fortpflanzung brachte mich zum Grinsen.
"Wie spät ist es eigentlich?", fragte ich nach einer Weile mit geschlossenen Augen in die gesättigte und entspannte Stille.
"Ungefähr sechs.", kam es träge zurück.
Stöhnend dachte ich daran, dass ich um halb acht zu einer Vorlesung musste. Und dazu noch eine extrem langweilige. Nur noch ein paar Minuten hier sitzen bleiben...
"Luna?"
"Eve?"
"Wo willst du jetzt eigentlich hin ... ich meine, was möchtest du jetzt machen? In eineinhalb Stunden muss ich mich auf den Weg zur Uni machen und... ach ich weiß auch nicht.", murmelte ich mehr zu mir selbst und wusste nicht, ob Luna mein Gebrabbel überhaupt verstand.
"Ist doch kein Problem." Ein herzhaftes Gähnen. "Ich komm' einfach mit und warte auf dich."
Ich richtete mich auf und sah mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen über den Tisch. "Hast du keinen Job oder sowas in der Art?"
"Nicht so, wie du jetzt vielleicht vermutest..." Was war das bitte für eine kryptische Antwort? Luna war auf dem Stuhl heruntergerutscht, sodass ihr Kopf nun auf der Lehne ruhte. Die Augen hielt sie geschlossen und sie blinzelte mich nur kurz an, als ich sie ansprach.
"Was ist mit Familie? Freunden? Oder etwas anderes? Irgendetwas, wo du hinkannst?"
"Willst du mich so dringend loswerden?", fragte sie mit übertrieben weinerlicher Stimme und ich verdrehte meine Augen.
Nach einem Seufzen antwortete sie: "Ich hab nur einen Bruder, Solis, wenn du das wissen wolltest. Und zu ihm kann ich nicht. Nicht jetzt zumindest."
Ah ja, der Bruder, der sie angeblich hergebeamt hatte. Bestimmt konnte sie nicht zu ihm, weil er ihrer Fantasie entsprang. Deshalb fragte ich mich, ob Luna einsam war. Sie hatte weder weitere Familie noch Freunde erwähnt, also stand sie mit dem Bruder, den sie höchstwahrscheinlich erfunden hatte, ziemlich alleine da. Ich merkte ihr jedoch nicht an, dass sie allzu traurig deswegen war, also verdeckte sie ihre Einsamkeit entweder sehr gut oder sie war es schlicht und einfach nicht. Eines von beidem musste es ja sein.

From Night To DayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt