Die Fackel

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Müde ließ Johanna sich auf das kleine Bett in ihrem Hotelzimmer fallen. Fünf Konzerte hatte sie inzwischen hinter sich gebracht, als nächstes stand Hamburg auf dem Programm. Der heutige Abend war wie immer berauschend gewesen, auch wenn sie nach Leipzig nie wieder auf einen netten Konzertbesucher wie Micha getroffen war. Sie genoss die Konzerte alleine und inzwischen konnte sie sogar darüber grinsen, wenn man sie böse anstarrte. Sie hatte begriffen, was das Problem der Fans war.

Es ging einfach nur darum, dass sie sich als eine große Gruppe fühlen wollten und sie mit ihrem Outfit fiel einfach raus. So, wie sie damals mit achtzehn glücklich gewesen war, als typische Gothic-Lolita endlich Gleichgesinnte auf einem lorem ipsum Konzert gefunden zu haben, genauso fühlten vermutlich auch heute noch viele der Besucher – und sie wirkte eben nicht wie eine Gleichgesinnte. Sie fürchteten, dass sie wie so viele andere Mitmenschen auf ihren besonderen Kleidungsstil herabsehen würde, und um dem zuvorzukommen, starrte man sie lieber vorbeugend böse an. Sie verstand es, aber sie würde trotzdem nicht aufhören, ihre geliebten fünfziger Jahre Kleider zu den Konzerten anzuziehen.

Sie hatte sich bereits abgeschminkt und bequeme Schlafsachen angezogen, doch noch war die Nacht nicht vorbei für sie. Nach ihrem ersten Abend hatte sie gelernt, dass sie die erste Rohfassung ihres Artikels direkt nach dem Konzert schreiben musste, um den Eindruck ihrer Gefühle so gut wie möglich festhalten zu können. Und so hatte sie schnell eine Routine entwickelt: Nach dem Konzert nachts schnell ein paar Zeilen getippt, dann bis zum Morgen geschlafen, so dass sie gerade noch rechtzeitig zum Frühstück im Hotel kam, danach zurück an ihren Laptop, um den Artikel fertig zu schreiben. Überarbeiten, Fotos sortieren, Fotos bearbeiten. Zwei weitere Versionen verfassen. Alles versandfertig machen und dann zu den drei Websites schicken, die inzwischen alle ihre Artikel abnahmen.

Sie war tatsächlich von fünfzig auf hundert Euro pro Artikel hochgeklettert. Ihre Arbeit wurde geschätzt und insbesondere die kleine Seite Rockin Germany hatte ihr bescheinigt, dass sie unschätzbar für das Wachstum ihrer Community war. Ihr eigener Blog lief etwas schlechter, da sie keine Zeit mehr hatte, ihre philosophischen Aufsätze zu schreiben, doch immerhin ihre vorbereiteten ODT-Bilder kamen weiterhin gut an.

Mit gewohnter Geschwindigkeit folgen ihre Finger über die Tasten. Heute fiel es ihr besonders leicht, den Artikel zu verfassen. Das Konzert heute war für sie persönlich ganz besonders gewesen.

Ihre Bekanntschaft mit Micha hatte sich ausgezahlt, denn Mark hatte sie bei jedem Konzert am Einlass wiedererkannt und mit jedem Mal, das er sie sah, wuchs offensichtlich sein Respekt vor ihr. Bis zum heutigen Abend. Er hatte sie direkt aufgehalten, nachdem er ihr Ticket kontrolliert hatte. Hatte einen Kollegen herangewunken, der sie bei der Hand genommen und durch einen Seiteneingang geführt hatte. Durch ein Labyrinth von Gängen kam sie schließlich direkt vor der Bühne wieder raus.

„Du machst doch immer Fotos", hatte der junge Mann ihr erklärt: „Mark dachte wohl, dass du von hier vorne bessere Fotos machen kannst. Pass nur auf, nicht zu weit in die Mitte zu geraten, da ... wird es immer etwas wild."

Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, und da hatten sie die finsteren Blicke der anderen Besucher kaum gestört. Sie stand vorne, hatte einen perfekten Blick auf die Bühne und John würde nur wenige Meter von ihr entfernt sein. Die vorigen Konzerte hatten ihr gezeigt, dass es auch im lorem ipsum Publikum natürlich immer eine Handvoll besonders aktiver Fans gab, die das Zentrum vor der Bühne in eine Moshpit verwandelten. Mit ihrer Kleidung war es ratsamer, sich davon fernzuhalten, vor allem aber wusste Johanna, dass ihre Statur mehr als ungeeignet war, das heftige Rempeln und Schubsen von rauen Wikingern auszuhalten. Doch Freunde, die ihre Leidenschaft für Rock und Metal teilten, hatten ihr schon oft genug in blumigen Worten beschrieben, was für eine hypnotische, beinahe meditative Wirkung der wilde Tanz in der Moshpit haben konnte, und so verurteile sie niemanden, der dort rumsprang.

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