Ein neuer Anfang

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Der Rabe segelte mit gespreizten Flügeln über die Stadt, deren Dächer im Licht der frühen Morgensonne glitzerten. Menschen, die aus der Höhe aussahen wie wimmelnde Insekten, gingen ihren täglichen Aufgaben nach. Frauen verhandelten mit Kaufleuten, Bäcker priesen lautstark ihre Waren an, Straßenkinder schlängelten sich zwischen den Einkaufenden hindurch. Doch zwischen diesen Alltagsszenen erspähte das scharfe Auge des Raben auch Hinweise darauf, was erst vor Kurzem passiert war: das neue, noch helle Holz einiger Marktstände wies darauf hin, dass sie offensichtlich zerstört und wieder aufgebaut worden waren, auf einem Marktplatz stand ein Sockel mit einer kopflosen Statue und es waren ungewöhnlich viele Soldaten unterwegs.

Der Vogel glitt höher und die Burg, die auf einem Hügel über der Stadt lag, füllte langsam sein Sichtfeld. Die dunklen Steine schienen das Licht der Sonne aufzusaugen und der leichte Wind, der die Federn des Raben streichelte, ließ die großen Banner mit dem Drachenemblem flattern. Der Rabe drehte eine Runde über den Burghof, wo ein Trupp Soldaten angeführt von einem Mann, der auf eine Krücke gestützt dastand, eine Reihe komplizierter Schwertmanöver übte. Die laute Stimme des Kommandanten hallte hinauf zu dem Raben, der daraufhin die Flügel anlegte und sich mit einem triumphierenden Krächzen fallen ließ.

Der Soldat sah wegen des ungewöhnlichen Geräusches nach oben, entdeckte das schwarze Geschoss, das mit ausgefahrenen Krallen auf ihn zukam, und machte einen Schritt zur Seite. Der Windstoß der schwarzen Flügel wirbelte die blonden Strähnen des Kommandanten durcheinander, als der Rabe im letzten Moment abdrehte und eine enge Spirale um ihn herum flog. Entrüstet krächzte er dem Soldaten ins Gesicht. Dieser lachte, denn er kannte das Spiel bereits, der Vogel drehte mit einem letzten Keckern ab und flog hinauf, wo eine Glasscheibe den Blick auf ein elegantes Zimmer mit einem großen Tisch freigab.

Zwei Frauen, eine mit fuchsroten, eine mit dunkelbraunen Haaren, beugten sich über die Papiere, die darauf verstreut waren. Sie sahen hoch, als der Rabe auf dem Fensterbrett landete und gegen die Scheibe pickte. Die Rothaarige kam zum Fenster hinüber, öffnete die Verrieglung und ließ den Raben herein. Dieser flatterte ins Zimmer, drehte eine Runde und ließ sich mit einem Krächzen auf dem Tisch nieder. Die Frau am Fenster drehte sich so schwungvoll um, dass ihr langer Zopf hinter ihr durch die Luft peitschte. Als sie zum Tisch zurückkehrte, saß anstelle des Vogels eine Frau in einem fließenden violetten Gewand darauf. Ihre ebenholzfarbenen Haare waren zu unzähligen Zöpfen geflochten und verschnörkelte schwarze Ranken schlängelten sich über jeden Zentimeter ihrer entblößten Haut, deren dunkle Farbe auf eine Herkunft aus den Ländern im tiefen Süden hindeutete.

"Guten Morgen, ihr beiden."

Ihre Stimme klang für einen Moment noch krächzend wie die des Raben, dann wurde sie weich und fließend wie Honig.

"Chandra! Gut, dass du so früh kommen konntest."

Die Rothaarige, die Hose, Hemd und ein grünes Wams trug, umarmte den Neuankömmling herzlich. Dann schüttelte sie grinsend den Kopf.

"An die Sache mit dem Raben werde ich mich nie ganz gewöhnen."

Die dritte Frau, deren mit Goldfäden besticktes rotes Kleid sie steif und förmlich aussehen ließ, nickte Chandra zur Begrüßung kurz zu, bevor sie sich sofort wieder zu den Papieren auf dem Tisch umdrehte. Ihre Stimme klang ungeduldig.

"Endlich. Wir haben schon auf dich gewartet. Die Ratsversammlung beginnt bald und wir müssen vorher noch Dinge besprechen."

Die rothaarige Frau legte Chandra die Hand auf die Schulter und lächelte sie an, dann warf sie einen leicht vorwurfsvollen Blick zu der Frau hinüber, deren Begrüßung so anklagend ausgefallen war.

Ein neuer AnfangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt