Prolog - Das Spiel [•]

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Schornsteine stehn in großem Zwischenraum
Im Wintertag, und tragen seine Last,
Des schwarzen Himmels dunkelnden Palast.
Wie goldne Stufen brennt sein niedrer Saum.

~ Georg Heym, Berlin

◆◇◆

"Fang mich doch! Fang mich doch!" Das kleine Mädchen tollte ausgelassen über die Mohnblumenwiese. Dicht hinter ihr rannte ein Junge, augenscheinlich nicht viel älter als sie. Sie lachten. Einige braune Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und wehten nun zerzaust in ihr Gesicht. Ihr Kleid sowie ihr Gesicht waren schmutzig und mit Ruß beschmiert, doch sie kümmerte sich nicht darum. "Du kriegst mich nie!", rief sie übermütig und die Blütenblätter der Mohnblumen stoben in die Luft, als sie ihre Schritte beschleunigte. Der Junge grinste und rannte hinter ihr her, die honigblonden Haare waren zerzaust und hingen ihm ins Gesicht. Stetig kam er ihr näher, bis er ihr Handgelenk packte. "Hab dich!" Durch das abrupte Abbremsen verlor sie das Gleichgewicht und fiel zu Boden, inmitten der leuchtend roten Mohnblumen. Da er noch immer ihr Handgelenk festhielt, stürzte er ebenfalls. Sie rangen am Boden, bis das Mädchen grinsend auf ihm lag. "Gewonnen! Zwei Lollis Will, du hast es versprochen!" Er kitzelte sie durch, bis sie sich lachend hin und her wand. "Ich, denke, ich hab gewonnen Feli. Also bekomme ich zwei Lollis von dir", erwiderte er selbstzufrieden. Da erlosch das Lächeln auf Felis Lippen. "Ich hab aber keine zwei Lollis", sagte sie mit Bedauern in der Stimme.
Will umarmte sie. "Kein Problem Feli. Schau mal, ich hab doch zwei, es kann jeder einen haben." Er holte zwei Lollis aus seiner Tasche und gab Feli einen. "Hier. Mama hat sie mir geschenkt, weil ich beim Brotbacken geholfen habe. Sie sind schon recht alt, da wir ja keinen Honig mehr bekommen und Mama die fünf Scheffel Zucker für andere Dinge braucht, aber die Lollis schmecken trotzdem noch."
Feli lächelte ihn an. "Danke Will. Ich hatte schon lange keine Süßigkeiten mehr." Sie betrachtete den Lolli nachdenklich und fast ehrfürchtig, ehe sie vorsichtig das Papier entfernte, in das der Lolli eingewickelt war. "Wie geht es deiner Mutter?", wollte Will wissen. Feli sah traurig zu Boden. "Immer noch nicht besser. Wir haben nicht genug Geld oder Essen, um den Arzt zu bezahlen. Und Papa hat immer noch keine neue Arbeit gefunden. Die brauchen in den Fabriken keine Krüppel", sagte sie mit bitterem Unterton in der Stimme. "Mama und Papa wollen, dass ich mir eine Arbeit suche. In den Fabriken suchen sie immer Kinder, die sich um die Maschinen kümmern. Oder ich fange in der Wäscherei an, in der Mama gearbeitet hat. Wenn wir nicht arbeiten, bekommen wir keine Karten mehr. Und wir haben jetzt schon kaum etwas zu essen." Sie fing leise an zu schluchzen und Will nahm sie bestürzt in den Arm. "Bitte Feli, geh nicht in die Fabriken! Ludwigs großer Bruder wurde von einer Maschine zerquetscht. Ich will nicht, dass dir das gleiche geschieht." Sie schluchzte nur noch lauter. "A-aber ich ha-habe keine Wahl! Wir brauchen doch Essen. So-sonst ver-verhungern wir! U-und seit Theo k-kämpfen muss ist Ma-mama immer traurig. We-wenn ich für u-uns Essen ver-verdiene macht sie d-das bestimmt glücklich u-und dann wi-wird sie vielleicht wieder ge-gesund." Will strich ihr beruhigend über den Rücken. "Ich helfe dir Feli. Ich lasse dich nicht allein. Alles wird gut, du wirst sehen." Feli drückte ihr tränennasses Gesicht an seine Brust. Nach und nach verebbten die Schluchzer, bis sie sich beruhigt hatte. Sie hob langsam den Kopf und sah Will traurig, doch mit neuer Hoffnung in den Augen an. "Und wenn ich genug Geld verdient habe, kaufe ich uns ein ganzes Glas Lollis, ja? Und ganz viel Mehl und Zucker. Und dann können wir Kuchen backen und vielleicht sogar Kaffeebohnen kaufen." Ihre grauen Augen begannen zu leuchten, während sie erzählte. "Und dann bauen wir ein großes Haus, in dem wir alle zusammen leben können. Wir können jeden Tag Haschen spielen, und Verstecken!" Sie stand auf und drehte sich ausgelassen im Kreis. "Und Mama muss nie wieder traurig sein, Theo kommt bestimmt bald zurück und dann sind wir eine richtige große Familie!" Will sprang begeistert auf und ergriff ihre Hände. Gemeinsam tanzten sie über den Teppich aus Mohnblumen, bis ihre Wangen gerötet waren und sie keine Luft mehr bekamen. Schwer atmend ließen sie sich auf den Mohnblumenteppich fallen. Feli blickte zum Himmel auf und erschrak. Die goldene Abendsonne tauchte alles in sanftes, rötliches Licht. "Mama und Papa warten bestimmt schon! Bis morgen Will!" Sie sprang rasch auf, umarmte Will und rannte davon, zu der nahen Ansammlung von Holzhütten - die Siedlung der Fabrikarbeiter. Will blickte ihr lächelnd nach, ehe er in die entgegengesetzte Richtung ging, zu der großen Stadt. Ehemals voller Reichtum, nun voller hungriger und verletzter Menschen, denen der Krieg sehr zu schaffen machte. Will stellte sich bereits darauf ein, um seine tägliche Ration Mehl kämpfen zu müssen.
Alles beugte sich dem Krieg und noch war kein Ende in Sicht.
Der Tod herrschte und nichts vermochte ihn von seinem Thron aus Ruß und Knochen zu stürzen.

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838 Wörter

"Mama, der Himmel brennt." (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt