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Es war kalt. Eisig kalt. Der Schnee peitschte zusammen mit dem schneidenden Wind in mein Gesicht und ich hatte das Gefühl, dass meine Tränen auf meiner Haut festfroren. Ich machte keine Anstalten sie aus dem Gesicht zu wischen, es bildeten sich ja sowieso immer wieder neue. "Komm, Schatz. Gehen wir nach Hause. Deine Hände sind schon ganz blau und kalt." Meine Mutter nahm mit ihrer behandschuhten, schwachen Hand meinen rechten Arm und zog mich weg von dem klaffenden Erdloch in dem ein Holzkasten lag. Gerade so groß, dass ein etwa 1,40 Meter kleiner, zierlicher Junge hineinpasste. Ein braunhaariger, siebenjähriger Junge namens Felix, der wahnsinnig gerne Schokotorte am Sonntagabend aß und eine kleine Matheschwäche hatte. Der Junge, der bei dieser verdammten Kälte und einem eingedellten Kopf in dem schwarzen Sarg lag, war mein Bruder. Also, ich weiß nicht genau ob der Kopf eingedellt war. Jedenfalls stelle ich mir die Leiche so vor. Ich wollte ihn nach dem Unfall nicht sehen. Mom und Dad wollten auch nicht, dass ich ihn sehe. Was wahrscheinlich auch besser so war. "Bitte komm jetzt." Schluchzte meine Mom als ich mich keinen Zentimeter bewegte. Ich erinnere mich nur zu gut an ihre herzzerreißenden Schluchzer. Ich hab sie noch oft gehört in den darauffolgenden Monaten, in dem darauffolgenden Jahr. Ich hörte ihn das nächste Mal als sie Felix' Zimmer betrat um sein Zeug wegzuwerfen. Die nächsten Male hörte ich die Schluchzer an Heiligabend, zehn Tage nach seiner Beerdigung. Ihr Schluchzer war auch zu hören als Dad und sie sich stritten, sich trennten und als Dad auszog. Ich hörte die Schluchzer fünf Monate lang, kurz bevor ich zu dem Geräusch einschlief. Ich hörte das verzweifelte, nach Atem ringende, ertrinkende Geräusch wenn ich von der Schule heim kam, wenn sie in ihrem Zimmer saß und versuchte so leise wie möglich zu schluchzen und an jedem 14. des Monats. Sie war ein Wrack und das würde sich so schnell nicht ändern. Meinem Dad ging es ganz anders, aber er hatte statt des Schluchzens eine zehn Jahre jüngere Blondine, die davor seine Sekretärin gewesen war. Klischee nennt man so was auch. Wenigstens hielt sie meist ihre Botox-Klappe wenn ich mal zu Besuch da war. In der modernen Bude meines Vaters findet man noch immer keinen einzigen Gegenstand von Felix. Es ist als hätte er immer nur eine Tochter gehabt, nie noch einen Sohn. Kein einziges Bild von Felix ziert eine seiner vielen Wände und kein einziges gemaltes Kunstwerk von ihm liegt in einer seiner Schubladen. Aber das ist okay, er hat losgelassen.
Er hat seinen alten Job losgelassen.
Er hat sein altes Auto losgelassen.
Er hat seine alten Freunde losgelassen.
Und er hat damals wohl sein altes Ich los-und zurückgelassen mitsamt seiner Tochter, seiner Ehefrau und seinem verstorbenen Sohn.

Das Zurückgelassene MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt