Gut genug...

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Eine perfekte Familie, wünscht sich das nicht jeder? Irgendwann erreicht jeder den Punkt, an welchem er die Augen schließt, ein Lächeln auf seine Lippen zwingt und sich eine intakte, funktionierende Familie wünscht, in welcher man sich nie anschreit, nicht hasst, zusammenbleibt und hält. Einen Kreis von Personen, bei denen man sich geborgen fühlt und nicht immer Angst vor dem nächsten Fehltritt haben muss... Ein Platz wo man sich gegenseitig vertrauen kann und nicht urteilt, seine Gefühle gegenseitig berücksichtig und niemanden um Geldes- oder Rachewillen fallen lässt oder verrät. Gibt es so etwas überhaupt?

Nein... Für William hatte es das noch nie gegeben... Und das würde es auch nicht, da war er sich sicher. Wieso denn auch? Noch nie, war er gut genug gewesen, um einen Wunsch erfüllt zu bekommen. Seit er denken konnte, hatte man immer nur Ansprüche an ihn gestellt, Sisyphusarbeiten! Ganz egal, wie sehr er sich angestrengt hatte, ob er bis zur Erschöpfung gelernt hatte, Klassenbester war, eine Goldmedaille gewann oder ausgezeichnet wurde... Niemals hatte man ihm die Anerkennung zukommen lassen, die sich jedes Kind wünscht. Die seiner Eltern. Obwohl er sich sicher war, dass seine Mutter ihn liebte, hatte sie einfach nicht die Kraft sich seinem Leben auch nur im winzigsten zu widmen. Meistens kämpfte sie im Wodkadelirium gegen die Selbstzweifel, die sie von innen heraus auffraßen und größtenteils die Schuld seines Vaters waren. Aber sein Vater, der durchaus dazu in der Lage wäre, ihn zu würdigen, tat es einfach nicht. Nie war er zufrieden mit William, hielt ihm immer wieder vor: „Du bist ein Spears, natürlich musst du in allem der Beste sein. Wie willst du sonst einmal das Familienimperium übernehmen? Als einziger Erbe hast du hohen Anforderungen gerecht zu werden!" Diese Worte hatten sich in das Gehirn des Alleinerbens gefressen, wie Feuer sich durch ein Blatt Papier fraß. Wieder und wieder echoten sie in seinem Kopf und überdeckten jedes Bedürfnis, wie Hunger, Durst oder Schlaf. Dauerhaft war sein einziges Ziel nur, dass er ein lobendes Wort von seinem alten Herrn erhielt, aber er würde das wohl nie schaffen, mit einem so leicht überlasteten Körper? Nicht mal drei Tage ohne Schlaf hielt er aus, ohne über seinen Unterlagen einzuschlafen... Ganz egal, wie viel er sich vornahm, spätestens nach 15 km klappte sein Kreislauf zusammen und seine Muskeln brannten, als würden sie alle mit einem scharfen Skalpell einzeln durchtrennt. Am nächsten Morgen schmerzten sie noch mehr und verkrampften sich ein jedes Mal, wenn er versuchte aufzustehen. Schmerzmittel halfen schon lange nicht mehr... Er war einfach zu schwach! Egal, was er tat, es war nicht genug! Nachts, in den wenigen Stunden, die er sich erlaubte zu schlafen, schreckte er aus Albträumen hoch, in welchen ihn tausende Stimmen anschrien, dass er nicht genug war, dass er erbärmlich war und all seine Bemühungen umsonst, dass jeder Rückschlag unverzeihlich und der dauertrunkene, unglückliche Zustand seiner Mutter seine Schuld war. Schwer atmend vergrub er das Gesicht in seinen Händen und unterdrückte ein Schluchzen, seine Lunge war wie zugeschnürt und seine Muskeln zitterten wie Espenlaub. Es dauerte Minuten und er fühlte sich vollkommen isoliert von allem, hörte nur die Stimmen in seinem Kopf, hörte sie schreien...

Moment, da schrie wirklich jemand. Verwirrt sah er sich um und versuchte die Quelle des Lärms auszumachen, erspähte aber nur Dunkelheit in seinem Zimmer, bis auf den schmalen Lichtstreifen, welcher unter der Tür durchschien. Wieder ein markerschütternder Schrei, eindeutig von einer Frau, was sie schrie, konnte er nicht verstehen, aber eine Sache war klar, es kam von unten. Langsam erhob er sich und fühlte seinen ganzen Körper zittern, während er seine Brille auf dem Nachttisch suchte. Nachdem er tief Luft geholt hatte und die Zähne zusammenbiss, um die Schmerzen seines ausgezehrten Körpers zu ertragen, schlich er, so leise es eben möglich war, nach unten. Die Stimmen von dort wurden immer lauter und mittlerweile wusste er auch, wer ihre Eigentümer waren. Seine Eltern. Wieder stritten sie, wie sehr er das hasste. Aber seit langer Zeit hatte er seine Mutter nicht mehr so schreien hören. Unsicher blieb er neben der Wohnzimmertür stehen, der kalte Boden unter seinen Fußsohlen brannte richtig. Dies bemerkte er jedoch nicht, da er gebannt dem Tumult lauschte. „Du Hurensohn betrügst mich mit dem Hausmädchen!! Wie kannst du nur?! Ich habe dir meine besten Jahre geopfert!! Wir haben einen Sohn!" schrie seine Mutter aus Leibeskräften, ihre Stimme zitterte und sie rutschte von einem Heulkrampf in den Nächsten. „Einen Sohn, der nichts kann! Er ist missraten, genau wie du! Du hast ihn viel zu sehr verhätschelt! Sieh ihn dir doch an!" brüllte sein Vater zurück und William spürte wie ein scharfer Schmerz seine Brust durchzuckte. So dachte sein Vater also von ihm... Natürlich hatte der Jüngere das irgendwo gewusst, aber nie hatte er es so wahrhaftig gehört, wie gerade. Unangenehmerweise fühlte er wie Tränen in seine Augen stiegen, doch er wischte sie schnell mit seiner Hand weg und biss sich auf die Lippe bis sie blutete. Spears weinen nicht! redete er sich ein. Bald wurde die Traurigkeit in ihm durch ein unerträgliches Gefühl der Leere ersetzt... Was wollte er denn noch hier, wenn er missraten war... War er das wirklich? Wahrscheinlich... Sonst würde seine Mutter nicht trinken und sein Papa wäre stolz auf ihn... Plötzlich keimte Wut in ihm auf, auf seine Eltern, aber am Meisten auf sich selbst. Kräftig schlug er mit der blanken Faust, gegen die raue, massive Wand. Ein widerliches Knacken ertönte und ein Schmerz Übelkeit erregender durchzuckte seinen ganzen Körper. Dennoch schrie er nicht auf, das Schluchzen seiner Mama drang wieder an seine Ohren und er sah auf. Die Milchglastür die ins Wohnzimmer führte ließ nur Silhouetten erahnen, aber der 16-jährige war sich sicher, dass der Umriss, der auf der Couch saß und den Kopf gesenkt hielt seine Mutter war. „Er ist nicht missraten! Er ist in allem der Beste! Schulbester, Sportbester! Er spricht 4 Sprachen! Mehr schafft er einfach nicht!" widersprach sie ihrem Ehemann und dieser gab nur ein verächtliches Schnauben von sich „In seinem Alter war ich bereits Junior Chef der Fima und habe 5 Sprachen beherrscht! Siehst du es nicht Clarissa? Er wird das Imperium zu Grunde richten!" „Wird er nicht! Hör auf ihn als Enttäuschung darzustellen! Du bist die Enttäuschung, der, der uns alle kaputt macht! Ich hasse dich!" schrie sie ihn schluchzend an. William sah wie sein Vater sich auf seine Mutter zubewegte, die Frau, die ihn gerade in Schutz genommen hatte, die er liebte, trotz ihrer Sucht...

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