Ich hocke über der Toilette, die Badezimmertür habe ich abgeschlossen. Mir ist schlecht, doch ich muss mich nicht übergeben. Also stecke ich mir erneut den Finger in den Hals. Eigentlich habe ich mich sonst schon längst übergeben, doch heute bleibt der Würgereiz irgendwie weg. Also stehe ich wieder auf und gehe zum Medikamentenschrank, wo die Abführtabletten liegen. Ein paar sind noch übrig, aber der Vorrat den Mama immer anlegt, geht so langsam zur Neige.
In letzter Zeit ist sie mir gegenüber misstrauisch geworden. Sie hat mitbekommen, dass die Tabletten weniger wurden und sie meinte, ich würde viel zu wenig essen. Hat sie eine Ahnung! Ich finde das Mittagessen ist schon viel zu viel, deshalb frühstücke ich nicht mehr. Das Abendbrot lass ich auch weg und Naschen tue ich erst recht nicht. Wenn man mal bedenkt, wie viel Kalorien ein Schokoriegel schon hat... Allein die Vorstellung, dass ich die früher massenweise gegessen habe. Igitt! Ich will es mir lieber nicht vorstellen.
Auch wenn die Tabletten immer knapper werden nehme ich heute zwei. Zwei Tabletten bewirken schließlich mehr als eine. Meine Freundinnen, Mitschüler und Lehrer nerven mich auch schon alle. Ich wäre für mein Alter und meine Größe viel zu dünn. Bla rein, Bla raus. Ich höre mittlerweile so gut wie gar nicht mehr hin.
Jetzt, wo es schon eine Viertelstunde her ist als ich die Tabletten genommen habe, merke ich, wie sie wirken. Ungefähr eine halbe Stunde verbringe ich auf der Toilette mit einem Eimer vor mir. Jetzt, wo mein tägliches Ritual abgeschlossen ist, schwanke ich zur Tür. Ich merke wie mir leicht schwindlig wird. Noch ein paar Schritte bis zu meinem Zimmer, geschafft! Ganz langsam lasse ich mich auf mein Bett sinken. Schließlich schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen stehe ich schon um fünf statt um sechs Uhr auf, ich merke wie sich die ganze Welt um mich herum dreht. Ich schlurfe leicht benommen ins Badezimmer und stelle mich auf die Waage. Oh mein Gott! Ich sehe die Zahlen vor mir. Sie sind groß, groß wie böse Monster. Ich wiege immer noch so viel wie gestern. Ich nehme die Tabletten aus dem Schrank und schütte sie mir in den Mund wie Smarties. Kalorienarme Smarties natürlich! Alle auf einmal schlucke ich sie runter. Die Welt dreht sich immer schneller. Mein Herz schlägt wie verrückt. Auf einmal sehe ich alles nur noch verschwommen. Es wird immer dunkler, als ob jemand das Licht runter dreht. Ich merke wie meine Knie weich werden, erst knickt das linke Bein ein, dann das rechte Bein. Ich sinke zu Boden, danach ist alles schwarz.
Etwas später wache ich wieder auf, doch ich bin nicht zu Hause auf dem Badezimmerboden. Ich bin in einem komischen weißen Raum. Neben mir ist meine Mutter. Sie ist leichenblass und hat Tränen in den Augen. Ein Arzt steht vor mir und redet irgendetwas aber ich verstehe es nicht.
Zwei Wochen später bin ich wieder zu Hause, knapp dem Tod entkommen und was soll ich sagen? Ich bin mittlerweile in Behandlung. Meine Ärztin ist supernett. Ich unternehme wieder mehr mit Freunden und bin auf dem Weg, Schritt für Schritt, mich wieder normal zu ernähren.
DU LIEST GERADE
Ein Leben voller Geschichten und Geschichten voller Leben
Short StoryEin Leben voller Geschichten und Geschichten voller Leben ist eine Kurzgeschichtensammlung.