Liebes Ich.

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Liebes Ich,

ich frage mich, ob du je wieder lachen können wirst. Denn im Moment fühlt es sich nicht so an.
Ich frage mich, ob du je wieder am Morgen aufstehen kannst, ohne in den Spiegel zu sehen und ein verheultes Gesicht vorzufinden.

Ich weiß nicht, wann du - eigentlich ich - diesen Brief öffnen wirst. Es werden vielleicht drei, vier Jahre vergangen sein, möglicherweise auch zehn.

Im Moment liege ich immer noch am Sofa, eingehüllt in Decken und von Kissen umgeben.
Meine Hand findet wie von alleine den Weg von der Packung mit den Zimtschnecken zu meinem Mund und umgekehrt.
Ich schaue pausenlos Serien oder steinalte Filme - gerade ist es Vicky Christina Barcelona, ich weiß nichtmal worum es geht, ich kann mich nicht wirklich darauf konzentrieren. Das alles dient nur dazu mich abzulenken, doch es macht seinen Job nicht gut.
Denn ich muss andauernd daran denken.

Je nachdem wann du diesen Brief öffnest, wirst du die Qualen, die ich im Moment durchlebe, schon vergessen haben. Vielleicht vergisst du sie auch nie, wer weiß.

Falls man die komischen Flecken am Rande noch sieht, das sind Tränen, nur damit du es weißt.

Dienstag ist es soweit. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein schwarzes Kleid brauchen würde, aber unverhofft kommt eben oft.

Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.
Ich wünschte, ich wäre nicht so weit weg gewesen.

Hoffentlich schaffst du es irgendwann damit zu leben.
Wir könnten es selbst mit einer Zeitmaschine nicht ändern, das würde nur ein Paradoxon ergeben.

Ich.

Es sind zwei Jahre vergangen, ich schaffe es immer noch nicht. Der Dienstag war schrecklich, ich weiß alles noch ganz genau. So etwas wünsche ich niemandem, nicht mal meinem schlimmsten Feind.

Hoffentlich kannst es du, ich aus der Zukunft, es möglichst schmerzlos - und möglichst bald - verkraften.

Ich, drei Jahre später.

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