Der erste Tag meines neuen Lebens fing ja schon mal gut an. Oder war es doch vielleicht erst der letzte Tag meines alten Lebens? Ich persönlich würde es ja eher als den Einzug in das Vakuum bezeichnen. Denn im Moment bin ich wie ein Mariechenkäfer im Staubsaugerbeutel: einfach so irgendwo reingerutscht, wo ich gar nicht hingehöre, in einen riesigen unbekannten Raum, auf der Suche nach Nichts. Nur die Hoffnung, da irgendwann mal wieder rauszukommen, hält mich noch am Leben. Aber momentan ist für mich alles noch zu groß, die Geräusche zu laut und die Luft zu eng, um nach einem Loch im Staubsaugerbeutel zu suchen, aus dem ich wieder heraus kriechen könnte und mich unbemerkt zurück in mein altes Leben schmuggeln könnte, sofern ich dieses überhaupt schon verlassen habe.
Das Vakuum ist komisch. Ich mag es nicht. Obwohl ich hier eigentlich keine Gefühle empfinde. Außer Verwirrtheit. Aber ich glaube, ich mag es eher nicht so. Und es mag mich auch nicht so sonderlich. Schon am Tag des Einzugs in das Vakuum hat es mir eindeutig und mit allen Mitteln klargemacht, dass es mich hier nicht haben will. Es fing schon mit meinem Kaffee am Morgen an. Starbucks hatte keinen Zimt mehr. Ich meine hallo? Das muss man sich mal verdeutlichen: S t a r b u c k s h a t t e k e i n e n Z i m t. In welcher Welt leben wir eigentlich? In einer, wo Heißgetränke-Ketten mit Gelegenheits-veganen Flatbreads und laktosefreien Blaubeermuffins im Angebot, die Milliarden an Menschen wie mir verdienen, die jeden Morgen auf ihren Cappuccino mit Zimt (ja, nur einen kleinen bitte, nein, ich weiß dass in dem mittleren Cappuccino, der nur 70 Cent mehr kostet, sogar zwei Espressos drin sind, ich weiß sogar, dass das eigentlich Espressi heißt, aber ich kann mir nur den kleinen leisten und ja, ich bleibe wirklich dabei) angewiesen sind, um erfolgreich in ihren Tag zu starten, keinen Zimt mehr haben? Und da machen sich manche Leute auf der Welt Gedanken über den Klimawandel, die Flüchtlingskrise oder Donald Trump? Sollen sie doch mal auf dem Boden bleiben und darüber nachdenken, wie man einfache, lokale Probleme wie Zimtmangel bei Starbucks lösen könnte.
Aber weil das ja noch nicht ausreicht, muss ich mit Entsetzen feststellen, als ich einen Blick auf meine goldene Armbanduhr werfe, die eigentlich aus Messing besteht aber bestimmt nicht aus Kinderarbeit hervorgeht, da es ja tatsächlich Leute geben soll, die sich gegen Jahrhundertprobleme wie Kinderarbeit einsetzen, statt dafür zu sorgen, dass das nette Mädchen von nebenan (also ich (das sagt man nur so, das heißt nicht, dass gleich jeder mein Nachbar werden sollte)) ihren Zimt-Cappuccino am Morgen bekommt, na ja jedenfalls blicke ich auf meine Armbanduhr, deren sozioökonomischer Hintergrund in diesem Zusammenhang ja auch völlig irrelevant ist, und stelle mit Entsetzen fest, dass sie nicht mehr tickt. Ich meine, das muss man sich mal vor Augen führen: D i e U h r t i c k t n i c h t m e h r.
Und weil das Vakuum natürlich nicht mal jetzt, nach diesen zwei lebensverändernden Ereignissen, akzeptieren möchte, dass ich mit 231 km/h die Staubsaugerröhre hinuntergerutscht komme und die 230 Volt aus der Steckdose dafür sorgen, dass ich unaufhaltsam von einer Kraft in den Staubsauger gezogen werde, gegen die weder das Vakuum etwas einwenden könnte noch ich, muss natürlich noch ein drittes lebensveränderndes Ereignis dazukommen: Der Mann, der mir auf der Reise gegenübersitzt.
Nicht nur, dass sich die Natur bei ihm nicht zwischen Kopfbehaarung und Glatze entscheiden konnte und er das nun ja sagen wir mal etwas merkwürdige Zwischenergebnis mit vollem Stolz aller Welt zu präsentieren scheint, und dass er Schlaghosen aus dunkelbraunem Kort trägt, die verboten gehören sollten, nein, auf einmal muss er auch noch seine Schuhe ausziehen, die wieder mal ein fragwürdiges Zwischenergebnis aus Reiterstiefeln und Sandaletten sind, wenn es dafür überhaupt die richtigen Worte gibt. Nach nicht einmal drei Sekunden ist der Raum gefüllt mit einem unausstehlichen Gestank, aber zum Glück hat der gute Mann eine Sitzplatzreservierung, die ich mir aufgrund meines Starbucks-Cappuccinos OHNE Zimt nicht mehr leisten konnte, von der ich ablesen kann, dass ich ihn nur noch fünf Stunden in meiner Unmittelbaren Nähe ertragen muss. Er scheint an meinem fröhlichen, weltoffenen Gesicht zu erkennen, was für einen Treffer er mit mir gelandet hat, und streckt seine Füße gegen mein Schienbein, sodass ich dieses zurückziehe und er seine Füße unter meinem Stuhl so geschickt platziert, dass ich von nun an meine Füße auf die Klimaanlage stellen muss und glaube, dass ich mittlerweile unter Arthrose leide. Vielleicht tun ja die Menschenrechtler jetzt mal was für mich, oder vielleicht werde ich mal auf die Spendengala eines Y-Promis eingeladen, der mich dann als mitleidserregenden Spendenköder auswirft.
Jedenfalls habe ich es nun endlich bis nach ganz unten geschafft und sitze ich hier knietief im Vakuum fest, was weder mir, noch dem Vakuum recht ist, und muss mit Trauer feststellen, dass es mir hier drin beschissen geht. Im Vakuum hat mich keiner lieb, außerdem gibt es schlechtes Essen und WLAN sucht man hier auch vergebens.
Aber schon bevor ich meine Reise überhaupt angefangen hatte, als ich meine Sachen gepackt hatte und mich auf den Weg gemacht habe, wurde ich nur verabschiedet von Leuten, die denken, dass mir so was Spaß macht und mich beneiden, weil ich so „stark" und „weltoffen" bin und „immer mit allem umgehen kann". Aber ich will doch nur, dass sie akzeptieren, dass ich ein ganz normaler Mensch bin, der AUF KEINEN FALL in einen Staubsaugerbeutel gehört! Manchmal wünschte ich mir, Menschen hätten auch Waschanleitungen, einfach so ein kleines Schild wie an neuen T-Shirts. Dann wüsste man genau, wie man mit ihnen umgehen sollte. Dann würde ich auf meins schreiben: „Bitte nur Handwäsche bei 30°C", und mein Leben wäre um einiges leichter. Aber bevor es noch so weit kommt, und da Menschenrechtler bestimmt sowieso was dagegen hätten, muss ich es hier wohl alleine im Vakuum aushalten, Zukunft ungewiss.
Das ist der Grund, warum es im Starbucks besser immer Zimt geben sollte.
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ZEICHEN DES (UN)GLÜCKS
Short StoryWieso es mir im Moment eigentlich total beschissen geht und wieso Starbucks immer Zimt haben sollte.