Kapitel 1

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Scar

Alles hat eine erste Ursache. Zum Beispiel Bewegung. Ich bewege meinen Fuß und bringe dadurch den Stein ins Rollen, der wiederum prallt gegen einen anderen Stein, der wieder ins Rollen gebracht wird. Die Bewegung endet nicht und etwas muss auch meinen Fuß bewegt haben. Die Nervenzellen in meinem Gehirn sind für diesen Reflex verantwortlich, aber wie kommt es dass sie genau wissen welchen Fuß ich wie bewegen muss um den Stein ebenfalls bewegen zu können? Auch das muss eine erste Ursache haben. Meine erste Ursache war es geboren zu werden. Meine Geburt hat das Leben meiner Mutter zerstört, dadurch hat sie mich aufgegeben, mich bei dem Gauner hinterlassen der sich angeblich mein Vater nennt und mich ebenfalls links liegen lässt, ich habe die Schule abgebrochen, lebe auf der Straße, habe kein Geld und führe ein Scheindasein. Kurzum: Mein Leben ist Scheiße. Das ist nichts Neues, das behaupten viele. Aber ich bin bereit den letzten Schritt zu wagen, um diesem Grauen ein Ende zu setzen. Ich will sterben, denn ich bin nicht dazu auserkoren zu Leben. Anders als geboren zu werden, habe ich mir den Tod selbst ausgesucht. Ich habe von Anfang an alles genauestens geplant. An welchem Tag ich sterbe (Freitag, den 18.9.2015 ) um welche Uhrzeit (1.00 Nachts bei stockdunkler Finsternis) und mit welchen Mitteln (Ich stehe am Geländer der Old Dee Bridge in Chester, ein Messer steckt in meinem Gürtel). Die Dunkelheit erlaubt mir unerkannt zu bleiben, ich hätte mir keine bessere Nacht aussuchen können. Die Straßenlaternen sind bereits aus, es sind kaum noch Autos unterwegs und nur die Sterne am Himmel lassen das Wasser im River-Dee glänzen. Ihr Leuchten spiegelt sich auf der Wasseroberfläche, wodurch ich weiß wann das Geländer zu Ende ist - wann ich abspringen muss. Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Naja, es würde ihn sowieso nicht interessieren. Ob ich lebe oder sterbe ist ihm Scheißegal. Er würde es nicht mal mehr mitkriegen, so besoffen wie er tagtäglich ist. Manchmal vergisst er sogar schon meinen Namen. Ich heiße Scar. Früher einmal Scarlett. Scar ist mein Spitzname um genau zu sein. Ein ziemlich passender wie ich finde. Ich schaue nach links und rechts um mich zu vergewissern, dass ich nicht die Aufmerksamkeit irgendeines ahnungslosen Autofahrers errege, dann ziehe ich das Messer aus meinem Gürtel. Mit der Spitze ziehe ich eine gerade Linie quer über meinen Arm. Heißes Blut sickert aus der Wunde, den Schmerz spüre ich schon lange nicht mehr. An der Pulsschlagader halte ich inne. Ich tue dasselbe mit dem anderen Arm, bis mein Blut die Luft mit einem metallischem Geschmack erfüllt. Blute Scar, Blute dafür, dass du noch am Leben bist. Ich stecke das Messer zurück in meinen Gürtel und steige langsam über das Geländer, mache ein paar vorsichtige Schritte und klammere mich am Gitter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich trage meinen üblichen schwarzen Sweat-Pulli, meine Jeans und die zerschlissenen Sneaker. Um die Sachen werde ich ganz bestimmt nicht trauern. Nein, es gibt nichts mehr was mich auf dieser Welt hält. Nichts was mir etwas bedeuten würde. Niemanden dem ich etwas bedeute. Ich bin wie eine Narbe die niemals vollständig verheilt. Und was nicht verheilt muss letztendlich beseitigt werden. Ich weiß nicht ob ich meine Entscheidung zu sterben damit rechtfertige, aber mir wäre jeder Grund recht um diesem Leben zu entkommen. Mit der Schuhsohle meines Sneakers streife ich über das leicht rutschige Geländer. Unter mir höre ich das Rauschen des Flusses und ab und an spritzt die Gischt mir ins Gesicht. Ganz in der Nähe muss sich ein Wasserfall befinden. Blut tropft von meinen Armen auf das Metall und färbt es rötlich, im Schein der Sterne glänzt das Geländer. Für Mitte September ist es erstaunlich warm, vielleicht empfinde ich es aber auch nur so, da mein Körper bereits an berstende Kälte gewöhnt ist. Das Wasser wird kalt sein. Eiskalt. Als ob mich das abschrecken würde. Ich heiße jede Art von Schmerz willkommen, solange er mich ins Vergessen treibt. Ich mache mir keine Gedanken darum wer meine Leiche vielleicht finden könnte, Selbstmord ist heutzutage schließlich nichts ungewöhnliches mehr. Dieser Gedanke lässt mich schmunzeln. Was ist nur aus unserer Gesellschaft geworden das immer mehr Leute sich in den Abgrund stürzen? Aus dem Schmunzeln wird ein unterdrücktes Lachen und ich schenke der Dunkelheit mein strahlendstes Lächeln. Bald ist es vorbei. Nur noch ein paar Minuten genieße ich den Anblick des schimmernden Wassers. Die Dunkelheit wird mich verschlucken und es wird ein Segen sein nie wieder aus ihr auftauchen zu müssen. Mit den Händen umklammere ich das Geländer so fest wie möglich und beuge mich nach vorne, der Wind pfeift mir durch mein Shirt. "FUCK LIFE!" rufe ich und meine Stimme hallt zwischen den Häusern wider. Du kannst mich mal Leben, ich gehe meinen eigenen Weg. Ich lasse mich nicht länger von dir unterdrücken. Meine Finger sind steif vom kalten Metall, doch das hindert mich nicht daran mich noch weiter nach vorne zu beugen. Das Blut auf meinen Armen müsste mittlerweile versickert sein. Meine Armbanduhr piept, ein schriller Ton der mich daran erinnert dass es Zeit ist zu gehen. Ein Uhr nachts. Ich lächele noch immer, auch wenn meine Lippe sich taub anfühlt. Frei, ich werde frei sein. Und schmerzlos. Langsam lockere ich meinen Griff um das Geländer und schiebe mich mit den Händen nach vorne. Ich bin bereit. Der tiefe dunkle Abgrund erwartet mich.
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So das war auch schon der Einstieg meiner neuen Story. Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen und ich würde mich sehr über Feedback freuen 😊💕 Ich weiß noch nicht genau wann es weitergeht, da ich nicht so viel Zeit habe, aber ich versuche so aktiv wie möglich zu sein :)
xoxo Izzy ❤️

THUG LIFEWhere stories live. Discover now