Und wieder streife ich durch die menschenleeren Straßen und überwachsenen Plätze Krallheims. Einsam und verbittert, in nicht enden wollenden Grübeleien gefangen. Ein zersplitterter Mann, der sich vor seinen eigenen Fragmenten fürchtet.
Jedes Mal wenn ich aus dem sicheren Lichtkegel einer Laterne trete und mich die Finsternis umhüllt, bebt mein Atem. Und bei jedem Geräusch, das sich von der Stille dieser späten Stunde abhebt, zucke ich zusammen.
Was war das? Flüstert mir eine diabolische Stimme etwas zu? Ist es er? Oder bloß der säuselnde Nachtwind, der sein Spiel mit mir treibt?
Da! Im Dunkel der Gasse geistert ein Schatten. Kriecht aus einer Abfalltonne und späht um die Ecke. Hat er mich etwa gesehen?
Dort unterm Kanaldeckel gurgelt's! Ein Gurgeln als würd' ein schwimmendes Ungetüm nach Luft schnappen. Das muss er sein!
Ich beschleunige meine Schritte, aber wage es nicht zu rennen. Er darf nicht merken, dass ich fliehe. Darf nicht wissen, wohin ich gehe. Er, mein Feind, der mir schon zu lange auflauert.
Endlich habe ich die Uferpromenade erreicht, den gepflasterten Weg entlang des Kaltlaufs, der den Saum der Altstadt mit dem Hafenbezirk verbindet. Erschöpft lehne ich mich gegen die steinerne Brüstung und beobachte den Tanz der Nacht.
In unbändigen Strömen wallt unter mir der schwarze Fluss, dessen Ufer auf der anderen Seite kaum noch zu erkennen war. Die tobenden Wogen stürzen sich krachend gegen die emporragenden Felsen und die reißende Brandung spült ihren Schaum ans Land, während die im Buschwerk versteckten Zikaden das wilde Rauschen des Wassers mit ihrem Gezirpe untermalen. Dieses Panorama lässt mich erschauern. Denn ich sehe den Schrecken, der sich hinter diesem Bild verbirgt. Die Untiere, die sich durchs Wasser wälzen, ihre schäumenden Mäuler nach mir recken und nach meinem Fleisch hungern. Die brüllende Flut ruft mich. Er ruft mich.
Ich wende mich ab. Die Angst packt mich. Die Angst – sie fließt durch meine Adern, trieft aus meinen Poren, lässt meine Glieder erfrieren, zwingt mich zum Zittern. Die ungeheure Angst, die ihm so schmeckt. Ich darf sie mir nicht anmerken lassen. Da! Die Zikaden kichern schon.
Etwas entfernt erhellt eine flackernde Straßenlaterne ein Wartehäuschen. Ja, das ist der sicherste Weg. Der Bus muss in Kürze ankommen. Ich fürchte nur, dass die Zeit nicht reicht. Was wenn er schneller ist?
Wie auf Stichwort ertönt der ferne Klang der Kirchenglocke und verkündet das nahende Unheil. Für einen Moment verstummt der Gesang der Zikaden und die Sterne blicken herab. Auf der anderen Seite der Straße, nur wenige Schritte entfernt, steht eine einsame Gestalt. Reglos in den Schatten lauernd starrt sie in meine Richtung. Es ist er. Mein Dämon. Er hat mich gefunden und tritt nun ins fahle Licht.
Er hinkt mir entgegen als ob er von einer Brücke gestürzt und wieder aufgestanden wäre. Die Verkleidung, die er trägt, bestehend aus dem übergroßen Mantel mit weitem, aufgestellten Kragen und dem tief sitzenden Hut, kann seinen hochgewachsenen Körper nicht vollständig verhüllen – ein missgestalteter schuppiger Klumpen aus dem mehrere widernatürliche Wulste hervortreten. Wulste wie die eines Oktopoden. Widerwärtige zuckende Tentakel, die mich das Wasser fürchten lassen. Schleimige Fangarme, die mich in meinen Träumen fesseln und würgen. Seine abscheulichen Schreckenswerkzeuge, die mich dazu bewegten ihn den „Tentakelmann" zu nennen.
Langsam humpelt er auf mich zu, doch ein herannahendes Motorgeräusch lässt mich hoffnungsvoll aufatmen. Er hat es bis zum Randstein geschafft aber der Bus war schneller. Das Fahrzeug hält zwischen uns und ich stürme zur Tür, die sich quietschend öffnet. Das blasse Gesicht des Busfahrers begrüßt mich mit einem müden Lächeln. Erleichtert lasse ich mich auf einen Sitzplatz fallen und sehe aus dem Fenster. Der Tentakelmann ist nicht mehr zu sehen. Ich bin ihm doch noch entkommen.
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Der Tentakelmann
Horror"Und wieder streife ich durch die menschenleeren Straßen und überwachsenen Plätze Krallheims. Einsam und verbittert, meinen depressiven Grübeleien unterworfen. Ein zersplitterter Mann, der sich vor seinen eigenen Fragmenten fürchtet."