Kapitel 1

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Es war finstere Nacht. Der Zug schien sich in dem heftigen Wind und dem Regen kaum vorwärts bewegen zu können.

Dabei hätte es Caitlin mehr als eilig, endlich aus dem regnerischen Nordengland herauszukommen – und vor allem, das plappernde kleine Mädchen neben ihr loszuwerden.

„Tut mir leid, aber bei solch starken Gewittern hab ich immer schrecklich Angst", entschuldigte sie sich nun. Caitlin lächelte schwach, nur noch mit Mühe die Augen offen haltend. Nach einem Streit am Tag vorher, einem hektisch gepackten Koffer und vier Stunden Schlaf, auf dem Weg in ein Sommercamp, auf welches sie so ziemlich überhaupt keine Lust hatte, sollte es doch eigentlich möglich sein, dass sie in dieser 6-Stündigen Zugfahrt mindestens eine Stunde Ruhe und Schlaf abbekommen konnte.

Und eigentlich hatte sie nichts gegen den Sturm – irgendwie beruhigten sie der Regen und das gleichmässige Prasseln auf dem Fensterglas. Schon lehnte Caitlin ihren Kopf gegen die kalte Scheibe, als der Zug plötzlich ruckelte und sie sich ihre Nase schmerzhaft an dem Glas anstiess.

„Ach, verdammt...!"

Nun eindeutig genervt, setzte sie sich kerzengerade hin. Jetzt reichte es aber.

„Caitlin...", wimmerte das Mädchen neben ihr plötzlich. Mit ängstlich zusammengezogenen, braunen Augen blickte sie aus dem Fenster und krallte sich so fest an Caitlin, dass es weh tat.

Ein weiterer Ruck ging durch den Wagon, und der Zug kam mit einem ohrenbetäubenden Kreischen und Ächzen schlitternd zum Stehen.

„Liebe Fahrgäste. Bitte keine Panik. Es liegt ein kleiner Schaden am hinteren Wagon vor. Alle Fahrgäste des hinteren Wagens, bitte steigen Sie aus und verteilen Sie sich in den restlichen Wagen. Auch das Belegen von Erstklass-Abteilen ohne korrespondierendes Billet ist möglich. Bitte keine Panik und steigen Sie ruhig aus..."

Es wurde still im Abteil; nun war auch Caitlin wieder hellwach. Sie schaute sich alarmiert um, während ihr Herz so laut klopfte, dass es in der Stille vermutlich im ganzen Wagon zu hören war. Für einen Moment bewegte sich keiner; nicht einmal das kleine Mädchen. Ein Blitz zuckte über den Himmel, und der darauffolgende Donner liess die gesamte Erde erbeben. Da erhob sich urplötzlich ein Mann mit einem kleinen Kind in den Armen und forderte seine Frau laut auf, ihm zu folgen, und das brach den Bann. Innert einer Millisekunde waren alle aufgestanden und rannten Richtung Ausgang; Frauen mit Kindern in den Armen, eine Gruppe von Jugendlichen, die offenbar auch das Sommercamp besuchen wollten, ein paar ältere Ehepaare und zum Schluss Caitlin, das verängstigte Mädchen hinter sich herziehend wie einen bockigen Stier.

„C...caitlin...Caitlin..."

„Komm jetzt, es passiert schon nichts..."

Doch selbst ihre Stimme zitterte unsicher. Ein weiteres Mal wurde der Zug durch einen Blitz erhellt, und ein paar Kinder begannen zu weinen. Alle drückten nach vorn, schoben sich zwischen den anderen Familien hindurch und kämpften sogar mit Händen und Füssen.

„Liebe Fahrgäste. Bitte keine Panik. Bitte begeben Sie sich ruhig in die vorderen 4 Wagons. Der hintere Wagen wird nun langsam abgelöst."

Das waren die falschen Worte. Der Lautstärkenpegel hob sich gefühlt auf 130 phon, sodass das Gewimmer des kleinen Mädchens unterging und nur noch das panische Geschrei der Mütter und die empörten Ausrufe der Väter zu hören waren.

Entschlossen packte Caitlin die Hand des Mädchens fester und drückte sich verzweifelt nach vorn, während sie mehrere Mütter rücksichtslos wegschubsten. Ein Mann hinter ihr drückte so stark, dass Caitlin gegen den Jungen vor ihr gepresst wurde und sie Angst hatte, jeden Moment keine Luft mehr zu bekommen. Doch langsam realisierte sie, dass sie bereits im Gang stand, und ihr Griff um die Hand des Mädchens lockerte sich ein wenig.

2030 - Silberne KraftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt