„Papa! Kannst du mir kurz helfen?"
„Warte kurz, Schatz, sonst brennt es an..."
Leonie seufzte auf und zog den Koffer mit einem Ruck die zweite Stufe hoch. Etwas zersprang, und dann fielen weisse, kleine Splitter klirrend auf den Boden. Caitlin und Leonie schauten sich bestürzt an und schlugen sich wie in Zeitlupe die Hand vor den Mund. Das war eine der teuersten Vasen, die sie besassen, und zudem ein Erbstück...
„Was war das?"
„Äh..."
Ihr Vater hastete nun sofort in den Gang und erkannte die Situation mit einem Blick.
„Diese Vase...", begann er und raufte sich die grau melierten Haare.
Caitlin wusste, was nun passieren würde.
„Tut mir leid...?", flüsterte Leonie nun. Das war noch nie ein guter Satz gewesen.
Ihr Vater lief knallrot an.
„Es tut dir leid? Die Vase war ein Erbstück!", schrie er.
„Von meinem Vater, und dessen Vater und dessen Vater!"
Leonie presste die Lippen zusammen und nickte schnell, während ihr Vater tief Luft holte.
„Hausarrest. 4 Tage", brachte er schliesslich mit bebender Stimme hervor. Seine Halsschlagader pulsierte gefährlich.
„Was?"
Leonie erstarrte.
„Aber... es sind Ferien... und ich treffe mich in einer viertel Stunde mit Katie..."
Die Halsschlagader pulsierte noch mehr.
„Dann verschieb es."
Caitlin blickte ihre Schwester mitleidig an und hörte gleichzeitig, wie jemand sich der Haustür näherte. Ihre Augen weiteten sich, doch bevor sie auch nur eine Silbe herausbringen konnte, klingelte es.
„Das... ist Katie."
Leonie lächelte schwach. Ihr Vater blickte sie stumm an, nur sein Kopf wurde noch roter.
„Ich werde ihr kurz...", meinte Leonie und machte einen Schritt in Richtung Tür. Ihr Vater hielt ihren Arm fest.
„Du wirst nicht. Ich erklär's ihr."
Catlins Augen wurden noch grösser. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater, hochrot und mit gepresster Stimme Katie erklärte, dass sie für die nächsten vier Tage nicht zu kommen brauchte, und dies vermutlich nicht gerade im höflichsten Ton.
„Äh, Papa...", mischte sie sich schnell ein und stellte sich vor die Tür. Es klingelte ein zweites Mal. Caitlin fühlte ein heisses Kribbeln in ihrem ganzen Körper, während sie standhaft zu bleiben versuchte und bocksteif vor der Tür stehen blieb.
„Jetzt hab ein wenig Geduld!", schrie ihr Vater so laut, dass selbst Caitlin zusammenzuckte. Katie hatte dies hundertprozentig gehört.
„Papa!", rief Leonie nun vorwurfsvoll und riss sich los.
„Bleib hier! Ich klär das", erwiderte ihr Vater mit fester Stimme, drehte sich dann zu seiner zweiten Tochter um und schob sie zur Seite. Caitlin stolperte und fühlte Wut in ihr aufkochen. Vermutlich war ihr Gesicht jetzt ähnlich rot wie das ihres Vaters. Sie drehte sich blitzschnell zu ihrem Vater um, und der Schwung liess ihre langen, schwarzen Haare nach vorn schwenken. Nun ging alles wie in Zeitlupe. Ihre Haare wehten ihr vors Gesicht, und urplötzlich waren sie schwer und hart und leuchteten wie Eisen in der Sonne. Sie schwangen weiter und streiften ihren Vater. Caitlin konnte nichts sehen ausser ihre weiss blendenden Haare, doch sie hört ihren Vater augenblicklich aufschreien. Ihre Haare verloren den Schwung und senkten sich wieder ab, so leicht und weich und schwarz wie immer. Caitlin hob hektisch eine Hand zu ihren Haaren und strich darüber, aber nichts hatte sich verändert. Sie hob den Blick und sah in das entsetzte Gesicht ihrer Schwester, dann in die geschockten, fast schon verängstigten Augen ihres Vaters. Seine Hand lag auf seiner Wange, und als er sie langsam senkte, sah Caitlin mehrere rote, leicht blutende Kratzer auf seinem Gesicht, die sich bis fast zu seiner Lippe erstreckten. Sie öffnete den Mund, doch ihr Hirn schien wie leer, und sie brachte keinen einzigen Ton heraus. Ihr Vater machte einen langsamen Schritt zurück, worauf Caitlin zusammenzuckte. Er hatte Angst vor ihr.
„Ich...ich weiss nicht, was..."
Ihre Stimme war lediglich ein dünnes Piepsen.
Ihr Vater hatte Angst vor ihr.
„Leonie? Caitlin? Was ist denn los?"
Caitlin wandte sich um und entdeckte ihre Mutter am Treppenrand. Auch ihr Vater drehte sich nun um, und plötzlich kam wieder Bewegung in ihn.
„Du...", raunte er in Caitlins Richtung und streckte langsam einen Finger aus.
„Du bist nicht Caitlin. Du bist nicht meine Tochter!"
Caitlin keuchte verzweifelt auf und spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen. Die Worte fühlten sich an wie eine Hand, die ihr Herz zusammenquetschte.
„Ich..."
Wer war sie?
„Caitlin..."
Das war Leonie. Sie hatte nun ebenfalls Tränen in den Augen.
„Sie hat mir das hier zugefügt! Das ist nicht Caitlin!"
Ihr Vater hatte sich nun wieder seiner Frau zugewandt, die mit offenem Mund auf das Szenario vor ihr starrte und sich keinen Zentimeter bewegte.
„Caitlin... der Arzt hatte vielleicht recht...", flüsterte sie nun und blickte ihre Tochter direkt an. Sie hatte keine Angst. Sie war bloss besorgt. Und traurig. Caitlins Blick verschwamm. Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass die Tränenschleier verschwanden.
„Nein", widersprach sie mit weinerlicher Stimme, doch die Aussage war klar.
„Du!"
Ihr Vater packte sie an den Armen und schüttelte sie.
„Gib mir meine Tochter zurück!"
Caitlin sah durch die wieder aufkommenden Tränen zu ihm auf, doch sie konnte sein Gesicht durch den Schleier von Tränen und schwarzen Haaren, die ihr ins Gesicht fielen, nicht erkennen.
„Papa, lass sie in Ruhe!", schrie Leonie nun, doch ihr Vater beachtete sie nicht.
Erneut spürte Caitlin Wut wie kochendes Wasser in ihr aufbrodeln. Sie wollte den Kopf drehen und Leonie etwas sagen, irgendwas – doch wieder waren ihre Haare ungewöhnlich schwer und behinderten die Bewegung. Diesmal hörte sie ihren Vater schreien, bevor sie ihre Haare aufblitzen sah, wie sie langsam seiner Brust entlang glitten und dann wieder wie gewohnt hinter ihre Schultern den Rücken herab fielen. Noch im selben Moment drehte sie den Kopf und erblickte das Blut, das durch das Hemd ihres Vaters sickerte. Ihre Mutter stiess einen kurzen Schrei aus, ihre Schwester wimmerte und Caitlin selbst schlug sich unwillkürlich die Hand vor den Mund. Ihr Vater krachte nach hinten an die Kommode und stöhnte auf, doch Caitlin konnte nichts mehr von alledem hören. Es schien, als hätten ihre Ohren aus Schreck beschlossen, fortan nichts mehr durchdringen zu lassen.
Ein Luftzug streifte ihre Wange, und Caitlin realisierte, wie ihre Mutter nach vorn stürmte und sich neben ihren Mann kniete. Ihr Blick galt einzig und allein ihm, nur ihm. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, seine Brust von dem Stoff des Hemdes zu befreien.
Das Hemd war rot. Caitlin versuchte zu atmen, doch es viel ihr schwer. Fast so, als wäre sie diejenige, die verletzt war.
Papa...
Ihre Worte erreichte die Umwelt nicht.
Doch die Worte, die nun aus dem Munde ihres Vaters kamen, würde sie ihr Leben lang sehr genau in Erinnerung behalten.
„Du bist nicht meine Tochter... Du bist ein M...ein Monster..."
Leonie wimmerte erneut, und nun stürzte auch sie zu ihrem Vater vor, bereits das Handy in der Hand, um den Notruf zu wählen. Caitlin stand noch immer bloss da.
Es tut mir leid...
Ihr Atem beschleunigte sich; ein kläglicher Versuch ihres Körpers, die Tränen zurückzuhalten. Caitlin hörte nichts mehr. Sie schwang herum, stolperte über ihre eigenen Füsse, riss die Tür auf und rannte.
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Langsam nimmt die Geschichte eine erste Wendung...
Was findet ihr? Und wie hättet ihr reagiert - wäret auch ihr weggerannt?
Freue mich auf Antworten! <3
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2030 - Silberne Kraft
AdventureWir schreiben das Jahr 2030. Die Atomkraftwerke werden abgeschafft. Strom ist Mangelware. Ein Krieg steht bevor. Eine Gruppe jugendlicher Problemkinder, verunglückt im Wald, die plötzlich neue Fähigkeiten entwickeln - Und auf einmal das Potential be...