Im Tod gibt es keine Schatten

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Laut platschen meine Füße auf die Erde. Ich achte auf jedes Geräusch, spüre die Regentropfen auf meiner Stirn und den eisigen Wind, der mir zuflüstert schneller zu laufen. Doch ist das wirklich der Ton der Lüfte? Die schnalzende Zunge der Böen? Oder ist es wieder er? Er, der mich seit unzählbaren Tagen verfolgt und sich in meine Fersen bohrt um an meinem Fleisch zu zehren – mein Schatten. Ich nehme wahr, wie sich die Schritte verdoppeln und beiße mir auf die Unterlippe. Ja, er ist es. Er ist wieder da und er will nicht gehen. Er saugt sich fest wie ein ausgewachsener Moskito bis ich blutleer zu Erde sinken werde. Hektisch blicke ich um mich. Er ist schlau, er lässt sich nicht blicken und die Geräusche der Schritte normalisieren sich wieder. Er will nicht, dass ich ihn sehe. Ich weiß aber, dass er da ist. Er ist mein Begleiter, mein Verfolger, mein steter Flüsterton. Er wird mich niemals verlassen. Doch dass er auch mein Leben zerstören wird, das kann ich bis heute nur erahnen.

„Peter, hey, ich bin hier!“ Ich höre ihre Stimme und ich spüre ihn an meinem Rücken kleben. Meinen Schatten. Doch ich schenke ihm keine weitere Beachtung und widme mich dem langen und liebevollen Kuss meines Engels, meines Augensterns – Wendy. Ihre blonden Locken hüpfen mit ihrem Lachen um die Wette und ich wirbele sie durch die Luft. Sie quiekt begeistert auf und als ich sie wieder absetze legt sie ihre Arme um meine Schultern und ich meine Hände um ihre Hüfte. Alles scheint so perfekt, so atemlos, so zeitunabhängig. Sie verschlingt ihre Hand mit meiner und zieht mich in den kleinen Park. Auf einer Bank lassen wir uns nieder und ich ziehe sie zu mir heran. Ihre Sommersprossen sind von der Sonne geküsst und ihre Augen ein Geschenk des Ozeans. Niemals war ich so poetisch gewesen, doch sie, meine Liebe, lässt mich zu einem besseren Menschen werden. Und sie lässt meinen Schatten im gleißenden Sonnenlicht verschwinden. Sie genießt meine Berührungen und es scheinen Stunden zu vergehen bis sie grinsend verkündet, nun Hunger zu haben. Ich nehme ihre Hand und wir laufen in das Café Mirabeau. Weil draußen alles voll ist, müssen wir rein gehen und ich spüre, wie die Angst in mir hoch kommt. Umso dunkler es ist, desto größer werden die Schatten. Mein Schatten. Und als wir uns setzen und einen Kaffee und Kuchen bestellen spüre ich, wie meine Beine unkontrolliert beginnen zu zittern. Mein Schatten legt seine Klauen um meine Schultern und noch ehe die Speisen serviert werden wird es nicht mehr hell, nachdem ich geblinzelt habe.

Als ich wieder zu mir komme, in mein wahres Ich befinde ich mich in der Toilette. Über das Waschbecken gebeugt rauscht der Wasserstrahl aus dem Hahn und ich krempele meine Hemdärmel hoch. Ich weiß, dass er mich wieder eingenommen hat. Meine Kontrolle geraubt und über mein Leben entschieden hat. Keine Ahnung was mich erwarten wird, wenn ich jetzt zu Wendy zurückkehren werde. Wird sie überhaupt noch da sein? Ich weiß nicht, wie lange ich von ihm in Schach gehalten wurde. Ist denn noch Tag? Oder schon wieder Nacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich schleunigst wieder zu Wendy muss. Die Konsequenzen meines Verfolgers tragen muss. Meinem anderen Charakterzug. Kann man das so nennen? Wenn zwei komplett unterschiedliche Personen sich einen Körper teilen? Wenn der eine zwar die Überhand aber auch die Folgen vom Handeln des anderen tragen muss? Wenn er ihn wie ein Schatten auf Schritt und Tritt verfolgt und sich doch so gut verstecken kann? Ich weiß es nicht. Entschlossen drehe ich den Wasserhahn wieder zu und werfe beim Verlassen des Bades einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Mein Gegenüber lächelt, doch mein Mund verzieht sich kein bisschen. Denn er, ja er hat gelacht.

Am Tisch sitzt eine völlig aufgelöste Wendy. Sie hat das Gesicht in die Hände gestützt und ich bin in der Versuchung meinem Schatten die Kehle zu durchtrennen und ihn jämmerlich ausbluten zu lassen, wie ein Schwein beim Schlachter. Heftige Schluchzer durchzucken ihren Rücken und stoßen sich in ruckartigen Bewegungen das Rückgrat auf und ab. Was hat er getan? Vorsichtig lege ich ihr meine Hand auf die Schulter. Sie schreckt auf und sieht mich an. Doch in ihrem Blick ist keine Verzweiflung mehr, Trauer oder Verlust, nein, purer Ekel spiegelt sich wieder. „Was willst du noch von mir, Peter? Hast du mich nicht genug gedemütigt?“ Ich schüttele den Kopf. „Nichts Wendy, nichts hätte ich je getan um dich zu verletzen!“ Sie lacht laut und emotionslos auf. Die anderen Gäste schenken uns neugierige Blicke. Unterhaltung for free. „Nichts getan? Du bist ein Mistkerl, Peter! Und jetzt leugnest du es auch noch! Und ich…ich dachte…“ Wieder heult sie leise auf, wie ein verwundeter Wolf. „Ich dachte…du willst…du willst mir einen Antrag machen…“ Das hatte ich tatsächlich vorgehabt. Doch mein Schatten schien da wohl etwas gegen gehabt zu haben. „Ich würde dich niemals verlassen, Wendy!“ Sie schüttelt den Kopf und das Schwarz ihrer Schminke läuft ihre Wangen herab, bis es auf ihr Dekolleté tropft. „Genau das hast du gerade getan.“ Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Gebrechen. Und ich weiß, dass ich nichts mehr tun kann. Er hat sie verlassen, nicht ich. Aber wie soll ich ihr das nur erklären? Sie würde mich für verrückt halten. Sie alle würden das tun. Ich mache es ja selber. Ich weiß, dass es anormal ist. Und ich weiß, dass ich nichts dagegen tun kann. Absolut gar nichts. Und so küsse ich sie stumm auf den Scheitel, was sie nur noch mehr schluchzen lässt und gebe mich der Kälte und dem Regen der Straßen Londons hin. Und wieder höre ich das leise Flüstern in meinem Nacken: „Gut gemacht!“

Triefend nass betrete ich mein Apartment und schäle mir die Klamotten vom Körper. Die Wut vertreibt die Trauer. Die Trauer, sie verloren zu haben. Sie, die eine, die meine, die einzige. Ich habe sie verloren. Nein, er hat sie gedemütigt und verspottet. Mein halbnackter Körper bebt und ich spüre, wie ich die Kontrolle verliere und der Schatten – er – mich immer weiter einnimmt. In diese Sphäre hinein klopft es plötzlich. Es ist mir egal, dass ich kaum Kleidung am Leib trage. Ich reiße die Tür auf und mir gegenüber steht meine winzige, alte Vermieterin. „Mister Pan? Sie haben ihre Miete noch nicht bezahlt. Ich brauche sie bis spätestens Morgen!“ Ich schnaube wie ein Stier. Ihr Blick verändert sich. Sie schaut an mir herab. „Geht es Ihnen gut?“ Ich spüre noch, wie mein Arm ausholt und höre ihren lauten Schrei, bevor mein Schatten mich verschluckt.

Diesmal komme ich nicht aufrecht stehend zu mir. Ich liege flach auf dem Boden. Mein Atem geht schnell, er hat ihn beschleunigt.  Langsam setze ich  mich auf und spüre meinen schmerzenden Kopf. Ich erinnere mich an meine Vermieterin, Mrs Hook, eine nette Dame. Was hat er mit ihr angestellt? Ich wanke durch die Wohnung und rieche irgendetwas Verbranntes. Angewidert betrete ich die Küche und mir kommt Galle hoch, als ich meine leblose Vermieterin auf der Erde liegen sehe. Ihre Augen sind vor Grauen weit aufgerissen. Der Herd ist an und ihre eine Wange sieht schwarz aus. Wie verfault. Als mir dämmert, dass es weggebrannt wurde und ich das Blut zu ihren Gebeinen sehe muss ich mich am Türrahmen festklammern um nicht bewusstlos wegzukippen. Du willst Krieg, Schatten? Du bekommst Krieg. Wütend schleppe ich mich ins Bad. Spüre, wie er mir den Rücken herab zischt. Er lacht. Und als ich ihn im Spiegel sehe, lacht er noch lauter. Er sieht mir ähnlich, sehr sogar. Doch jegliches Licht ist aus seinen Venen entflohen. Er ist nur ein Schatten. Mein Schatten. Mein zweites Ich. Das Ich, welches ich immer verdrängen wollte. Und nun werde ich das tun. Ich weiß, welche Konsequenzen das mit sich tragen wird und zögere. Er feixt. „Feigling!“, haucht er. Ich packe das blutgetränkte Messer vom Waschbeckenrand, an dem noch der letzte Lebenshauch meiner Vermieterin klebt und lächele. „Du, du hast mir alles genommen. Du hast mir meine Liebe gestohlen, mein Leben und den Rest meiner Zukunft. Du hast einen Menschen ermordet! Einen unschuldigen Menschen! Und das alles tust du dich versteckend hinter meiner Person.“ Ich pausiere und jetzt bin ich es, der lächelt. Mein Blick wird in rotes Licht getränkt. „Und jetzt frage ich dich: Wer ist hier der Feigling?“ Und mit einem tiefen und wohltuenden Stoß beende ich unser beider Leben. Das Leben meines Verfolgers und meines. Denn im Tod, da gibt es keine Schatten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 23, 2013 ⏰

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