Too late

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Immer dachte ich, alles wird gut. 

Immer dachte ich, sie schafft das.

Immer dachte ich, sie ist stark genug. 

Was ich jetzt denke ist, dass ich dumm war. Wie konnte ich nur so viel denken? Ich hätte mehr handeln sollen! Ich hätte ihr helfen können. Sie sagte, sie kommt zurecht. Wie naiv war ich, um ihr zu glauben? Wie konnte ich das nur zulassen? 

Gestern war noch alles in Ordnung. Heute schreibe ich sie an. Doch sie schreibt nicht zurück. Ich habe sie angerufen, doch sie ruft nicht zurück. Sie kann es nicht. 

Wisst ihr auch warum? Weil es zu spät ist. 

Weil alle Hilfe zu spät kommt. 

Wieder ein unschuldiges Mädchen musste ihr Leben geben, weil andere einen Spaß daran hatten, sie herunterzumachen. Egal, wie oft Menschen aus solchen Gründen sterben, wir werden immer weiter machen damit. Niemals wird unsere Gesellschaft ohne Mobbing existieren. Das Gefühl,sich gut zu fühlen, gefällt jedem. Doch was man dafür machen muss, ist wirklich nicht viel. 

Ein fieser Spruch hier, ein gestelltes Bein dort, und woanders eine Cola auf dem T-Shirt. 

Manche stehen darüber, manche ignorieren es. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, in dem man einfach nicht mehr kann. In dem man nur noch eines will. 

Aufgeben. 

Ich habe versucht, ihr zu helfen. Mit allem, was mir zur Verfügung stand. Doch es war nicht genug. 

Ich war nicht genug für sie da. Ich bin gescheitert, es ist alles meine Schuld. 

Hätte ich früher gehandelt, hätte ich besser gehandelt, wäre sie noch am Leben. 

Warum kann ich die Zeit nicht zurückdrehen? Warum kann ich nicht früher realisieren, dass etwas gewaltig schief läuft?

Immer dieses 'warum', doch niemand wird mir je eine Antwort darauf geben können. 

Warum konnte ich sie nicht retten? 

War ich zu feige? War sie zu schwach? - Ich weiß es nicht. 

Alles was ich weiß ist, dass ich jetzt an ihrem Grab stehe. Alleine. Niemand ist zu ihrer Beerdigung gekommen. Nur ihre Familie und ein, zwei enge Freunde. 

Es regnet und ich weine mir die Seele aus dem Leib. Die Tränen kann man schon lange nicht mehr zählen. Es sind einfach zu viele. 

Sie ist gegangen. Hat mich zurückgelassen. Alleine. 

Vielleicht hätte ich ihr sagen sollen, dass ich mich genauso gefühlt habe. Dass ich genauso gemobbt wurde. Vielleicht hätte es etwas geändert. 

Sie hat mir immer alles erzählt. Ich habe geschwiegen. Zu gerne wollte ich ihr ins Gesicht sagen, wie sehr ich dieses Gefühl verabscheue. Von allen gehasst, von allen ignoriert, von allen ausgelacht. 

Sie ist den einfachen Weg gegangen. Sie hat aufgegeben. Ich werde leben müssen. Denn alles, an das ich mich im Moment klammere, ist die Hoffnung, dass alles besser wird. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben unter menschenwürdigen Bedingungen. 

Too Late ~ storiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt