Meine Hand wurde langsam zu kalt, sodass ich meine Finger nicht mehr spüren konnte. Mist, warum mussten Bierflaschen auch immer im Kühlschrank stehen? Ich stellte die Flasche auf einen der Tische ab und zog mich in ein ruhigeres Eck zurück. Ab vom der Menge und dem lauten Bass der mittlerweile meine Ohren zum schmerzen gebracht hatte.
Zweieinhalb Stunden waren schon vergangen. Noch eine oder zwei weitere und mein Freund würde angetrunken kommen und mir mitteilen, er sei müde und wollte endlich nach Hause. Er war eigentlich der Letzte dem ich heute begegnen wollte. Ich schlenderte durch den mit viel zu hoch gewachsenem Gras bedeckten Garten und ließ mich auf einer Bank unter einer alten Eiche nieder. Da es schon etwas später war und wir uns erst im Frühlingsmonat April befanden, hatte sich ein wenig Tau gebildet, sodass ich merkte wie meine Beine etwas des kühlen Nass abbekamen, was mir aber egal war. Sollte ich doch, wie meine Mutter mir es immer glaubhaft versicherte, eine Blasenentzündung vom Sitzen auf kaltem Untergrund bekommen. Ich brauchte jetzt ein wenig Zeit für mich.
Kaum saß ich 2 Minuten, wurde die viel zu angenehme Stille von meinen eigenen Gedanken verdrängt. Tausend Stimmen sprachen auf mich ein, fragten mich, ob ich das richtige Tat, was wohl als nächstes passieren würde und was ich da überhaupt angestellt hatte. Ich stützte meine Ellebogen auf meinen Oberschenkeln ab und versuchte mir über all diese Dinge klarzuwerden. Es gab nur ein kleines Problem. Mein Kopf hatte sich anscheinend gerade dazu entschlossen nicht mehr denken zu wollen, was das Chaos nur noch verschlimmerte. Ich kramte in meiner lila Clutch, die ich zuvor neben mich auf die Bank gelegt hatte und zog eine kleine metallische Dose hervor.
Auf dem Deckel war in großen Buchstaben mit Edding in einer krakeligen Schrift Sorgenfrei geschrieben. Die Dose hatte ich letztes Jahr von meinem besten Kumpel Pete zu meinem 19. Geburtstag geschenkt bekommen und trug sie seitdem immer mit mir herum. Als er mir die Dose überreicht hatte, sagte er mir, ich solle sie nicht öffnen, bis es mir mal richtig Scheiße ging und genau das hatte ich auch getan.
Pete kannte ich seit dem Kindergarten. Sein Aussehen hatte sich in den letzten 13 Jahren kaum verändert. Seine schwarzen gelockten Haare trug er immer noch bis zu den Schultern und seine blauen Augen, besaßen immer noch das gleiche Strahlen, wie früher. Im Ort war er als Sonderling bekannt. Er sprach mit nicht vielen, war lieber alleine als in einer Gruppe und hatte Hobbys wie Geocaching, was einige anscheinend als nicht normal empfanden. Für mich war er jedoch der Bruder, den ich nie hatte.
Meine Gedanken schweiften nun von Pete zu meinem jetzigen Freund, Mauric ab. Wen ich ihn noch als diesen beschrieben konnte. Da war ich mir nämlich nicht mehr sicher. Ich dachte an all das, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war und ein erdrückendes Gefühl kam in mir hoch. Ein Gefühl, welches so viel Trauer und so Leid hervorrufen konnte, wie ich es noch nie erlebt hatte. Tränen begannen meine Wangen herunterzulaufen. Nicht, weil ich um die zerstörte Beziehung zwischen mir und Mauric trauerte, sondern weil ich ganz und gar keine Ahnung hatte, was zu tun war.
Die Metalldose war mittlerweile in meine linke Hand gewandert, worin ich sie nachdenklich hin und her drehte. Dabei fiel mir auf, wie schön das Silber doch im Mondschein glänzte. Ich zögerte, sollte es heute der Tag sein, and dem ich sie öffnete? Der Tag, an dem schon viel zu viel geschehen war? Naja, scheiße ging es mir immerhin. Daran gab es keine Zweifel. Ich hob meinen Kopf und schaute mich um. Ungefähr 100 Meter entfernt sah ich die Umrisse des Hauses und ein leichter Bass war zu spüren. Auf der Wiese war niemand zu sehen, nicht zu meiner Linken, weder zu meiner Rechten. Ich schaute zurück auf die Dose und schob einen Finger an die Öffnung. Ein leichtes Klick und der Deckel sprang auf. Zum Vorschein kam ein zusammengefalteter Zettel, welcher ein kleines blaues Päckchen verdeckte. Ich zog mit der Rechten den Zettel, welcher mit einem hässlichen Smiley Gesicht geschmückt war, hervor und öffnete ihn vorsichtig. Auf dem weißen din A4 Blatt stand nicht viel, nur ein paar Zeilen in der Mitte verzierten die Leere. Ich zögerte, war es jetzt der richtige Zeitpunkt? Naja noch schlimmer konnte der Tag ja nicht werden. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, bevor sie die Worte auf dem Papier zunichte machen konnten.
Endlich konnte ich wieder klar sehen und betrachte das Geschriebene. In krakeliger Handschrift stand: ,Traurige Tage sind die schlimmsten Tage im Leben. Warum und wieso sie traurig sind, spielt dabei keine Rolle. Wenn alles kalt ist und die Welt unter einem Schleier von Grau bedeckt ist, du nicht mehr weiter weißt, hilft dir das hier vielleicht ein bisschen auf die Beine. Und Mim, vergiss nicht, wenn du mich brauchst, bin ich immer um die Ecke. Pete.' Nebendran war noch ein kleines Herz gemalt. Manchmal konnte Pete echt kitschig sein.
Ich nahm das blaue Päckchen aus der Dose und legte sie mit dem Brief neben mir auf die Bank. Ich öffnete das Päckchen und lunste mit einem Auge hinein. Sofort fing ich an zu schmunzeln. Pete war einfach der Beste, auf so eine Idee konnte keine andere Person kommen. Das Päckchen war gefüllt mit genau dem, was man eben nicht erwartet hätte. Keine Drogen, kein Geld. Sondern etwas das von viel mehr Bedeutung war. Etwas das man als Liebe, aber in einer anderen Form, bezeichnen konnte. Das Päckchen war gefüllt mit Glitzer. Lila Glitzer. Oder wie Pete wahrscheinlich es als etwas wie Einhornstaub bezeichnen würde. Ich schüttete den Inhalt in meine Handfläche und stand auf. Ein tiefer Atemzug und ich sah lila Glitzer vom klarem Nachthimmel fallen. Ich legte mich auf den Rücken in das nun glitzernde Gras und starrte in die Sterne. Wie unheimlich klein und zur gleichen Zeit auch groß die Welt sein konnte. Wie alleine man sich an einem Ort mit so vielem Menschen doch fühlen konnte. Frage für Frage rauschte durch meinen Kopf. Antworten, gab es keine.
Die Probleme wollten zwar nicht gelöst sein. Weder mit meiner Beziehung, noch mit mir selbst. Im Endeffekt war es sogar unmöglich. Man würde immer etwas finden und in die Problem-Schublade stecken. Es würde niemals aufhören. Auch würde die Trauer nicht aufhören. Immer versteckt. Immer bereit aus der hintersten Ecke hervorzutreten und einem den Tag zu versauen. Für diese Tage gab es dann wenigstens eine Lösung. Und zwar Glitzer. Lila Glitzer.