Flucht

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Ich kann einfach nicht mehr, schießt es mir durch den Kopf. Dieser Tag war zu viel. Ich schließe die Haustür auf und gehe, ohne meine Schuhe auszuziehen, die Treppe rauf. In meinem Zimmer schmeiße ich meine Tasche aufs Bett und reiße den Kleiderschrank auf. Meine Hand griff nach irgendwelchen Klamotten und ich stopfe sie geistesabwesend in die Tasche. Danach schnappe ich mir mein Portmonee und kratze mein ganzen Erspartes zusammen. Es sind insgesamt etwa um die 350 Euro. Ich stapfe ins Bad und sammle auch meine Kosmetikprodukte zusammen. Als ich in den Spiegel sehe, erschrak ich. Meine Augen waren verquollen, Tränen zierten meine roten Wangen. Auf einmal packt mich die Wut: Wieder haben sie mich zum weinen gebracht!

Wieder war ich zu schwach!

Jetzt reicht es mir!

Wütend laufe ich zurück ins Zimmer, hole meine Tasche und gehe wieder nach unten. Zum Glück ist mein Bruder noch nicht da. Mein Schlüssel nehme ich mit, genauso wie etwas zu essen. Dann schwinge ich mich auf mein Rad und radle zum S-Bahnhof. Dort schließe ich das Rad an und sprinte die Treppen zur Bahn. In 3 Minuten kommt die nächste Richtung Hauptbahnhof. Ungeduldig entknote ich meine Kopfhörer und mache meine Lieblingsmusik an. Trotzdem verschwindet die Wut und Enttäuschung nicht. Die Bahn fährt ein. Nachdem alle ausgestiegen sind, steige ich ein und setze mich auf einen der freien Plätze.

Ich bekomme eine Nachricht von einer Freundin: Was haben wir für Hausaufgaben auf? Ich antworte nicht und stelle den Flugzeugmodus ein. Ich habe keine Lust mich weiter zu verstellen. Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe und starre wie hypnotisiert auf die Wälder und Häuser, die vorbei rauschen. Aus meinen Kopfhörern dudelt leise Everloving Arms von Kristina Train. Und auf einmal fühle ich mich frei. Anders kann man es einfach nicht beschreiben.

Ich bin einfach ich.

Ich weiß nicht wie lange ich so da saß, aber ich schrecke hoch als meine Station ertönt. Ich rapple mich auf und steige aus. Meine Beine tragen mich wie automatisch zum Kartenschalter, wo ich zum ersten Mal Überlege wo ich überhaupt hinmöchte. Meine Finger tippen den ersten Ort an, der mir einfällt: Wien. Eine Karte kostet um die 140 Euro. Und dazu muss ich noch 6 mal umsteigen. Tolle Scheiße. Ich bezahle und gehe zum Bahngleis. Ich habe noch zwanzig Minuten, also kaufe ich mir einen Kaffee. Zwanzig Minuten später rollt der ICE in den Bahnhof. Die Türen öffnen sich und ich steige ein. Ich finde recht schnell einen Platz, da die meisten noch arbeiten. Ich stelle den Kaffeebecher auf den Tisch und hole mein Handy aus der Jackentasche, um es komplett auszuschalten. Danach entferne ich meine Sim-Karte und verstaue sie in meiner Tasche. Als ich das Handy wieder anschalte, öffne ich meine Mediathek um wieder Musik zu hören. Jetzt habe ich eine lange fahrt vor mir.

Plötzlich packt mich eine unbändige Müdigkeit und ich schließe die Augen. Das letzte was ich denke ist:

Es tut mir Leid, Mama.

KrankWo Geschichten leben. Entdecke jetzt