Kapitel 2 - Mauerfall

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Als ich zuhause an meinem Schreibtisch saß und Hausaufgaben machen wollte, konnte ich an nichts anderes denken als an diesen Jungen vor dem Schultor. Wie konnte jemand denn nur so gut aussehen? Diese kastanienbraunen Locken, die im Wind tänzelten. Seine dunklen Augen, dessen Farbe ich aus der Entfernung nicht definieren konnte und mich trotzdem von Anfang an in ihren Bann zogen. Und diese breiten Schultern, Oh mein Gott  ich hätte dahinschmelzen können. 

Doch die Frage, wer er ist, bleibt bestehen.
Wenn er wirklich nur jemanden abgeholt hat, hätte ich ihn doch bestimmt schon das ein oder andere Mal hier gesehen. Ob er wiederkommt?

Ein Vibrieren unterbrach mein Nachdenken über den schönen Unbekannten.
Melina hatte mir geschrieben. Mit einem Seufzer entsperrte ich mein Display und las, was denn so wichtig sei, mein Tagträumen von Prince Charming zu unterbrechen.

Cedric und ich wollen später noch zu Dunkin' Donuts und ein bisschen mit Freunden draußen abhängen, kommst du mit? Vielleicht finden wir ja endlich jemanden für dich, der dich von Mike ablenkt. Also.Ja oder Ja?

Mike war mein Ex. Ich hänge ihm nun schon seid einem knappen Dreivierteljahr hinterher.
Mike war meine erste richtige Beziehung, doch die Entfernung hat's auf Dauer immer schwerer gemacht.
Melina versuchte mich immer wieder neu zu verkuppeln, bis jetzt jedoch ohne Erfolg und mittlerweile hab ich ihren Möchtegern-Verkupplerin-Job satt, auch wenn sie's nur gut gemeint hat. Aber Liebe kann man nicht erzwingen. Beide müssen es wollen und bei Mike und mir ging's halt irgendwann einfach nicht mehr. Keiner hatte wirklich Schuld. Es war einfach so.

Sorry Melina, habe meiner Mutter versprochen, ihr bei etwas zu helfen. Vielleicht nächstes Mal, okay? Trotzdem danke für die Einladung :)

Ich schickte die Nachricht ab, sperrte mein Display wieder und widmete mich diesmal wirklich meinen Hausaufgaben, denn es gibt nichts nervigeres, als Hausaufgaben auf's Wochenende zu verschieben, um den lieben langen Tag lang von jemandem zu schwärmen. Auch, wenn er's wert war.

***

Gefühlte fünf Stunden später war ich fertig. Ich hasste Geschichte. Wozu lernet man etwas über Geschehnisse oder Menschen, die doch schon längst tot oder in Vergangenheit geraten waren?
Manche Dinge muss man glaub ich einfach nicht hinterfragen.
Dinge wie z.B das Ein Mal Eins. Kann Ein mal Eins nicht auch zwei oder fünfundzwanig sein? Wer beweist sowas denn bitte? Und wer hat sich den Rotz mit Brüchen oder Parabeln überhaupt ausgedacht? Und wozu braucht man Lineare Gleichungen im Alltag?

Ein Blick nach draußen verriet mir, dass es bereits schon dämmerte. Hab ich wirklich so lange gebraucht? Die fünf Stunden waren eigentlich nur ironische Übertreibung. Aber allen Anschein nach, habe ich wirklich so lange dafür gebraucht, herauszufinden, was es mit der Berliner Mauer und dem Mauerfall am 9. November 1989 auf sich hatte.

Mein Kopf explodierte förmlich von den ganzen unnötigen Informationen.
Ich schaute auf mein Handy um zu sehen, wie spät es war.
Zehn nach Sechs. Und eine neue Nachricht von Melina, die sie mir vor zwei Stunden geschickt hat. War ich wirklich so vertieft in das alte Berlin, dass ich mein Handy gar nicht wahrgenommen habe? Wow, hätte nicht gedacht, dass ich mich irgendwann mal so sehr in etwas hineinsteigern kann.

Ich entsperrte mein Display, indem ich geschickt den Code eingab und tippte auf den Chat mit Melina.

Oh, okay. Kein Problem. Dann ein andern Mal :)

Ich beließ es bei der Nachricht, stand auf und warf mein Handy auf mein Bett.
Mein Magen knurrte, als hätte er seit dem Mauerfall nichts mehr zu sich genommen.
Warte, was? Schon wieder Mauerfall? Kann dieser Fluch bitte aufhören?

Mit immer noch knurrendem Magen ging ich in die Küche, geradeaus zum Kühlschrank durch.

,,Na du, öfter hier?" grinste ich unseren Kühlschrank an.

,,Nein, nur heute." ertönte es plötzlich.

,,Was zum?" Ruckartig drehte ich mich um. Meine Mutter stand kichernd hinter mir.

,,Sehr witzig."

,,Du hast angefangen."

Ich gab nur ein spöttisches Pff  von mir und holte eine Tiefkühlpizza aus dem Gefrierfach.

,,Wolltest du nicht abnehmen?" sagte meine Mutter, während sie sich ein Glas Wein einschenkte und mich keines Blickes würdigte.

,,Wolltest du nicht aufhören zu trinken?" gab ich so emotionslos wie möglich zurück.

Darauf wusste sie keine Antwort. 1:0 für Helena.

Der noch kalte Leckerbissen landete im Ofen und ich hüpfte auf die Küchentheke.

,,Einer meiner Bekannten ist grade in Berlin. Er wollte sich die Mauer angucken und meinte, dass sie echt interessant ist. Und die Geschichte dazu. Wir sollten auch mal nach Berlin fahren."

Oh. Mein. Gott.

Es nahm kein Ende.

Ich starrte meine Mutter mit einem undefinierbaren Blick an. Ich war verflucht. Eindeutig.

,,Ich werde keinen einzigen Schritt nach Berlin machen. Schon gar nicht zu dieser blöden Mauer. Ich mag unser schönes Ostfriesland. Hier ist es ruhig. Keine Mauer. Nur Dünen, Deiche, Sand und Wind."

Pinky PromiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt