Neues Ende

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Note: Vor langer Zeit habe ich den Roman "Der Schüler Gerber" von Friedrich Torberg gelesen, doch ich fand das Ende unpassend. Normalerweise liebe ich sogenannte "Bad Endings", weil sie meiner Meinung nach einfach mehr Emotion hervorrufen. Doch diesmal war ich unzufrieden und so schrieb ich mein eigenes Ende zu diesem Buch. Ein neues Ende, das ich nun mit euch teilen will.


Mit schweren, mühsamen Schritte verließ ich den Prüfungsraum, wo eben die Reifeprüfungen abgehalten worden waren. Ich habe verloren. Überall verloren. Bei der Matura, bei meinem Vater, bei meiner Liebe, bei Prochaskas Versprechen, bei Gott Kupfer, bei Professor Ruprecht, bei... bei mir selbst. Wozu? Zu welchem Preis? Ich weiß es nicht.

Niedergeschlagen trottete ich entlang des Korridors auf ein leeres Stück Wand zu. Sie ist so leer wie ich mich fühle. Nein, ich bin leerer. Sie hat noch ein bisschen Farbe an der Fassade, ich bin bleich. Vor ihr bleibe ich stehen und beobachte aufmerksam die feinen Risse im Rigips, die sich mir langsam offenbaren. Habe ich auch Risse? Natürlich. Nur sind sie so winzig, dass sie keiner zu beachten oder wahrzunehmen scheint. Langsam schritt ich näher an sie heran, bis ich die Mauer erreichte. So fühlt sie sich an, kalt, leblos, ungeliebt, zerbrechlich. Von außen stark, sicher, furchtlos. Aber von innen ganz anders. Fühle ich mich auch so an? Fühlt sich das X auch so an? Nackt, hilflos und verloren in den tiefen der Zahlen, die sie umgeben? Oder der Kutscher, der das Pferd schlug, um es in Position zu bringen? Fühlt er sich so? Oder Gott Kupfer, der Bluthund, der lauter Nichtgenügend vergibt, um sich daran zu ergötzen? Wollten sie alle nur mächtig sein, um nicht klein zu wirken? Um kein haargroßer Riss in einer Wand zu sein? Auch das weiß ich nicht.

"Scheri? Scheri, ist was?"

Kaulich stand mir plötzlich gegenüber und löste mich aus der Starre in der ich verfallen war. "Scheri?"

"Ja, was?"

"Ich habe gefragt, ob es dir gut geht?"

"Achso,..ja...ich meine, natürlich."

"Du musst aufhören, dir Sorgen zu machen. Die wissen alle, dass du reif genug bist und du kriegst sicher Stimmeneinheit. Immerhin hast du Prochaska, Filip und Hussak auf deiner Seite und mach dir keinen Kopf wegen Kupfer. Der alte Hund wird schon blöd drein schaun, wenn du durchkommst."

"Glaubst du wirklich, dass ich nicht durchfalle?"

"Auf keinen Fall! Nur weil ein Lehrer die rote Karte für dich zieht, heißt das noch lange nicht, dass du ganz aus dem Spiel bist. Du kommst einfach nur auf die Reservebank, das ist alles. Und wenn ein anderer Spieler die Arschkarte kriegt, dann wirst du eingewechselt und kommst wieder aufs Feld."

"Und wenn keiner so schlecht ist wie ich und ich bei der Durchfall-Bank sitzen bleibe? Was dann?"

"Dann rennst du einfach raus und beweist ihnen, dass du es doch kannst. Ich muss jetzt rein. Mal sehen was ich hab."

Und mit einer Bewegung war Kaulich weg. Bald werde ich auch hineintreten müssen. Zu den Richtern, die mein Urteil fällen werden. Zu den Richtern, die über alles entscheiden. Über meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft. Über mein Wohlbefinden, meine Karriere, meine Geliebten. Über alles und jeden. Ob ich wie diese Wand einmal fallen, oder ob ich, wie das X, in einer geometrischen Progression aus n Gliedern, aufsteigen werde. Ob ich der Kutscher bin, der die Peitsche trägt oder ob ich das Pferd bin, das geschlagen wird. Ob ich...

"Gerber Kurt, in den Prüfungsraum!"

Wer schreit denn da? Meine Hand glitt langsam von der Wand, bei der ich seit Minuten stand. Der Blick blieb bei Kaulich stehen, der, wie ein Honigkuchenpferd über beide Ohren grinste, und mich zu verstehen ließ, zu ihm zu kommen. Wie versteinert, rührte ich mich im ersten Moment nicht. Nach mehreren innerlich motivierenden Sprüchen, endlich den Gerichtssaal zu betreten, setzten sich meine Beine unbewusst in Bewegung Richtung Kaulich. "Keine Angst. Sind alle nett. Selbst Kupfer", flüsterte er mir beim Vorbeigehen zu.

In der Hand, die vorher auf der Wand ruhte, lag nun die Türklinke, die der Schlüssel zum Schloss war. Nachdem herunterdrücken, gäbe es kein Zurück mehr. Jetzt, jetzt kann ich noch weglaufen. Warum tue ich es dann nicht auch? Es gibt keinen Anlass, um sie zu betätigen und dann die schlimmste Nachricht meines Lebens zu erfahren. Leben. Bin ich in der Lage zu entscheiden, ob mein Leben überhaupt noch lebenswert ist? Ist es nicht schon gemein genug zu mir gewesen? Hat mein Leben denn irgendeinen Sinn? Ja, den Sinn es zu zerstören. Von innen nach außen. Wie bei der Wand. Genau, die Wand, die bin ich. Und die Menschen die hinter dieser Wand sind, wollen hinaus und versuchen mit Gewalt aus mir auszubrechen. Und sie werden es schaffen. Nur wann? Jetzt? In diesem Augenblick oder erst nachdem ich mein Prüfungsergebnis habe? Und wenn sie es gemeistert haben, was passiert dann mit mir? Werde ich, als Wand, überhaupt danach gefragt?

Nein, natürlich nicht. Das wäre zu viel verlangt. Also ist es doch egal ob ich durchfalle oder nicht. Ich werde ja nicht danach gefragt. Genauso ist es, und nicht anders. Angespannt umklammerten meine Finger das Metall und drücken es nieder. Eiskalt und ohne Erbarmen. Wie sich die Hyäne vor dem Bluthund verbeugt. Wie der Zelter, der zusammenbricht. Wie der Kitschroman, der unter der Realität steht. Die Tür geht auf. Sie stehen wie in einer Menschentraube mit Gott Kupfer als dessen Anführer, der triumphierend vorne an der Spitze wartet. Auf mich wartet er. Auf den Dorn in seinem Auge, bei dem er sich keine Sekunde länger mehr gedulden kann, ihn endlich zu entfernen. Weg mit dir! Vorsichtig trat ich ihm gegenüber. Seinem Gesichtsausdruck zufolge stand nichts Gutes bevor. Ich weiß es! Ich weiß es!

"Gute oder Schlechte Nachricht, Gerber?", stieß es kalt aus seinem Mund hervor.

Habe ich gerade richtig gehört? Gut oder schlecht? Ich darf es mir aussuchen. Ich durfte mir nie etwas aussuchen. Warum jetzt? Warum erst so spät? Vielleicht ist das meine imaginäre Henkersmahlzeit. Das wird es sein.

"Gut."

Ich muss etwas Positives hören. Etwas Aufbauendes, bevor ich zusammenfalle, wie bei einer falsch gerechneten Zinseszinsrechnung, die im Heft durchgestrichen wird, weil bei einem nicht das Ergebnis zum Schluss herauskommt, was herauskommen sollte. Kupfer musste Husten.

Dann antwortete er auf meine Bitte mit den drei verblüffendsten Worten, die ich je gehört hatte: "Sie haben bestanden. Sie sind mit Stimmeneinheit durchgekommen und wurden für reif genug erklärt. Die Schlechte ist, dass ihr Vater, wie soll ich es am besten ausdrücken...von uns gegangen ist."

Ich war nie sehr religiös, doch an diesem Nachmittag trieb es mich in die Kirche. Meine Eltern sagten immer, ich könne mir aussuchen an was oder wen ich glaube und wären nicht böse, wenn ich nicht ihr Glaubensbekenntnis hätte, doch ich wollte es, ein Mal zumindest, ausprobieren. Ich hatte meinen Rucksack auf den Rücken geschnallt und verließ, mit nur diesen einen Gedanken, die Schule, in die ich acht Jahre lang ging. Lisa hat mich verlassen, mein Vater hat mich verlassen und jetzt verlassen mich auch das Lernen und das Herumlungern in der Schule. Es ist alles abgeschlossen. Ich kann neu starten. Bei der Kirche möchte ich anfangen. Mein Leben hat den Sinn, jetzt zur Kirche zu gehen. Es ist ein Ziel, nachdem ich strebe.

Mit leichten, unbeschwerten Schritten ging ich meinen Wunsch näher. Ohne auf meine Umgebung zu achten marschierte ich daraufhin zu. Auf ein Gebäude mit spitzen Seitentürmen. In der Mitter thronte eine große Kuppel. Sie war majestätisch und durch ihre runde Form erschien es, als würde sie kein Ende haben. Unendlichkeit ist die wahre Ästhetik, nicht die Fakten. Nie mit etwas aufzuhören, wofür man hart gekämpft hat. Hürden, die einem nicht zu meistern vorkommen, mit der Kraft der Unendlichkeit überspringen. Mit der unendlichen Hoffnung, der unendlichen Gerechtigkeit, der unendlichen Liebe. Ich trat ein und das Hallern meiner Schritte machte sich auf dem nackten Marmorboden bemerkbar. Mit dem Wissen sich ein Kreuzzeichen zu machen, ging ich zum Weihwasserbecken und wusste zum ersten Mal ganz genau, was zu machen war. Mit meinem rechten Mittelfinger berührte ich die Wasseroberfläche, die erbebte und Kreise hinterließ.

Der angefeuchtete Finger glitt über meine Stirn zu meiner Brust und dann an den Schultern vorbei. Zielstrebig spazierte ich zu den Kerzen. Es waren noch nicht sehr viele dort, die leuchteten, also beschloss ich kurzer Hand eine anzuzünden. Aus meiner Hosentasche holte ich 20 Reichspfennige heraus. Mehr hatte ich nicht. Ich warf sie in eine kleine Dose mit einem winzigen Schlitz.

Ich nahm aus einer Kartonpackung ein Streichholz hinaus und zündete so die Kerze an. Eine wunderschöne Flamme aus den Farben Rot, Orange, Gelb und Blau ergab sich. Ich beobachtete sie noch eine Weile, dann setzte ich mich in die Bankreihe. In genau die Bankreihe, zu der ich als Spieler geschickt worden war, und fing an zu beten.

In Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

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