PROLOG

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Zwei kleine Tropfen des roten Nasses flogen wie in Zeitlupe zu Boden. Alles war still. Ein leicht modriger Geruch erfüllte die kleine Höhle. Ungläubig starrten die goldenen Augen auf die Frau. Die Frau mit den ewig grünen Augen. Grün, die Farbe des Guten, des Frühlings, der Natur. "Das ist unmöglich ...", krächzte der Drache und musterte die Frau erneut. Sie war nichts besonderes. Sie war nicht mal ein Animalis. Sie war ein Mensch. Ihre dunkelbraunen Haare waren zerzaust und teilweise angekokelt. Auf ihren Lippen lag ein sanftes Lächeln.

Aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen. In einem Jahrhundert würde er wiedergeboren werden. Und dieses Gesicht, diese grünen Augen, dieses Lächeln würde er nie vergessen. Er würde sich rächen. Seine Rache würde grausam sein. Das ganze Dorf würde er niederbrennen. Aber  nicht heute. Das Licht in seinen Augen erlosch und zum letzten Mal legten die schuppigen Augenlider sich schützend über die goldenen, schlitzartigen Iriden.

Schwer atmend zog die Frau das Schwert aus dem Brustkorb des Drachen. Schwarzes Blut ronn an dem Metall hinab. Sie konnte es nicht glauben. Sie hatte gesiegt. Sie, nicht irgendein Animalis. Kein Adeliger oder König, kein ruhmreicher Ritter, kein Held. Nein, ein gewöhnlicher Mensch. Endlich war ihr Dorf frei. Endlich war dieser Grausamkeit ein Ende gesetzt.

Auf einmal entzündete sich der Körper des Drachen und brannte lichterloh ab. Nur ein Häufchen Asche blieb zurück. Erstaunt betrachtete die Frau die staubartige Hinterlassenschaft. Plötzlich erblickte sie etwas glänzendes darin. Vorsichtig entfernte sie das schwarze Pulver von dem Gegenstand. Es war ein weißer, perfekt erhaltener Drachenzahn. Sie drehte ihn einige Male in ihren Händen herum und betrachtete ihn eingehend.
Ihre Augen weiteten sich. Auf dem Zahn war eine goldene Rune. Die Rune für Wiederkehr. Dieser Zahn war ein Versprechen. Er würde zurück kommen, irgendwann. Der Drache war nicht für immer ausgelöscht. Ihr Atem wurde flacher und ihr Herz pulsierte schneller. Sie blickte sich kurz zu ihren Seiten um, um festzustellen, dass niemand außer ihr dort war, und steckte den Zahn ein.

Dann hob sie ihren Bogen auf, sammelte alle noch heilen Pfeile ein und steckte auch das Schwert zurück in seine Scheide. Danach angelte sie ein kleines Fläschchen, gefüllt mit einer grünen, blubbernden Flüssigkeit aus ihrer Tasche und schluckte die sie eilig hinunter. Erst geschah nichts, doch einige Sekunden später verschlossen sich all ihre Wunden in rasanter Geschwindigkeit.

Nun verließ sie den Ort, den Jahrzehnte lang niemand mehr betreten würde. Sie hatte es geschafft und nur das zählte. Und falls der Drache wiederkehren sollte, würde sie ihn nochmals erledigen. Siegessicher und zufrieden mit sich selber kehrte die Frau Heim.

Animalis - im Auge des Drachen [Fragment]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt