" Du musst das nicht tun." Marlon beugte sich über den Motorradlenker, um Jaromirs Aufmerksamkeit zu gewinnen, erfolglos. Denn der junge Mann hatte den Blick starr geradeaus gerichtet, auf die Grenze ihrer kleinen Welt, dort wo das Dickicht des Waldes sich lichtete und Ragnarök anfing.
Da er nicht antwortete, versuchte Horizon, die mit ihrem Motorrad an Marlons linker Seite stand, ihn zum Schweigen zu bewegen.
" Es war seine Entscheidung, er war bereit sich unseretwillen der Vergangenheit zu stellen.", der Schleier der Anführerin der Silberlichten bewegte sich, während sie sprach und ihre grünen Augen funkelten gnadenlos, "Außerdem haben wir keine Wahl."
Marlon seufzte. Er schaute über die Schulter und sah, dass Annouk bei ihrem Bruder Simean an der Trage kniete. Er murmelte schon seit Stunden wirres Zeug vor sich hin, anscheinend war das Fieber schlimmer geworden. Darauf bedacht den blutdurchtränkten Mullbindenverband an seinem Unterarm nicht zu berühren, strich sie ihm über die Wange.
" Shhh, shhh." Annouk schüttelte leicht den Kopf, um ihm zu bedeuten lieber still zu sein.
Die Nummer 10 wandte sich wieder nach vorn, wo die Tore der Festung aufragten; Horizon hatte Recht. Doch er konnte auch nachvollziehen, wie Jaromir sich gerade fühlte, denn er wusste wie schwer es war, sich die eigenen Fehler einzugestehen. Vor allem vor dem jüngeren Bruder.
Nach einem tiefen Atemzug, während dem Jaromir sich wahrscheinlich auf das Schlimmste gefasst machte, fuhr er ein Stück vor.
" Erik, ich bin es. " Einen kurzen Moment lang tat sich nichts. Und dann bewegten sich ruckartig die Geschosse, die durch Luken aus den Mauern hinausragten und richteten sich auf jeden einzelnen von ihnen. Hinter einem der Silberfischmörser kam Run zum vorscheinen. Er starrte hinunter, zu seinem ehemaligen Freund und Teamkollegen und verengte die Augen zu Schlitzen, als müsse er abwägen, wer sich unter dem Turban verbarg.
" Erik..." Vor lauter Unglauben weiteten sich plötzlich seine Augen " Dein Bruder..."" Ich habe keinen Bruder mehr." ertönte es, und dann sah Marlon, wie der Anführer der Wölfe sich den Weg nach vorn bahnte und einen Blick hinunter warf, wo immer noch Jaromir stand. Er hatte seinen Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen, und als Marlon so darüber nachdachte wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er selbst Leon für eine halbe Ewigkeit nicht zu Gesicht bekommen hatte. Und eben deswegen hoffte er umso mehr, dass sie das hier irgendwie hin bekamen. Auch wenn der wichtigste Aspekt jetzt erst einmal war, dass sie in Sicherheit waren.
Falls Jaromir die wüste Abweisung zusetzte, ließ er sich das nicht anmerken.
" Öffnet das Tor, dann können wir alles weitere besprechen... " Er war nicht von sich aus auf Versöhnung aus, dazu war der Streit zwischen ihnen zu schwerwiegend und dennoch wusste er, dass die Sache um die es hier ging, größer war, als sein Stolz. Er musste es einfach wissen, dachte Marlon.
" Das könnt ihr gleich wieder vergessen. ", erwiderte Erik. Sein Blick schweifte über die Menge, die restlichen Silberlichten, die hinter Marlon und Horizon standen.
Der Funke Hoffnung, den Marlon noch gehabt hatte, darauf, dass Erik sich versöhnlich zeigen würde, dass er sich vielleicht sogar freuen könnte, seinen Bruder wiederzusehen, erlischte. Er erinnerte sich noch daran, wie sehr Erik der Verlust Jaromirs zu schaffen gemacht hatte...aber von dieser Trauer und dem Bedauern war nun nichts mehr zu sehen, denn alles was sich auf dem Gesicht des Anführers spiegelte, war blanke Wut.
" Nach all der Zeit tauchst du hier auf und erwartest, dass ich tue als sei nichts gewesen? "
" Nein, ich verlange wenigstens, dass du mir zuhörst!", rief Jaromir.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Marlon, wie seine Freundin ein Stück nach vorne fuhr.
" Wir wollen nichts weiter..."
Doch sie wurde sofort unterbrochen: " Es interessiert mich nicht, was du willst. Verschwindet einfach und lasst euch hier nicht mehr blicken. "
Marlon suchte nach Worten. Er wollte beschwichtigen, immerhin war er anscheinend der einzige, der dem Leitwolf noch keinen Kummer bereitet hatte, doch sein Kopf war nur erfüllt von Panik. Wenn das hier nicht klappte, waren sie alle aufgeschmissen.
Alle Augen ihres Teams waren auf Horizon gerichtet. Sie bewegte sich entgegen der Aufforderung keinen Millimeter, sondern hob lediglich leicht den Kopf.
Innerhalb eines Wimpernschlages hatte Erik einen Pfeil aus seinem geschulterten Köcher gezogen und ihn an den Bogen gelegt.Er zielte direkt auf Horizon. " Ich sagte du sollst verschwinden!" Er würde es nicht übers Herz bringen wirklich zu schießen, dachte Marlon.
" Wegen dir habe ich alles verloren! Du hast alles kaputt gemacht, was mir wichtig ist!"
" Das hast du dir alles selbst zu zuschreiben", schrie Horizon wutentbrannt und plötzlich sah Marlon den Pfeil auf sie zufliegen, schneller als sie hätte reagieren können, trotz ihrer blitzschnellen Reflexe.
Aber nicht schneller als er.
Sein Herz setzte einen Schlag aus und sein Bauch zog sich zusammen. Marlon stürzte vorwärts und stieß sie aus der Schusslinie.Horizon war mit einer solchen Kraft geschubst worden, dass sie fiel. Noch bevor sie auf dem Boden aufkam, wusste sie, dass der Pfeil ihn getroffen hatte. Die Wucht des Aufpralls presste ihr alle Luft aus den Lungen, so dass sie nur erstickt "Marlon!" japsen konnte, ehe sie wie in Trance zu ihrem Freund hechtete, der vom eklig schmatzenden Treffen des Pfeils vom Motorrad gerissen worden war.
Das erste, was sie wahrnahm war sein schmerzerfülltes Ächtzen, welches ihr sofort die Tränen in die Augen trieb. Er wand sich auf dem Boden und hielt die Hände über sein Gesicht, aus dem der Großteil des Pfeils ragte." Beim Fenriswolf, was hast du getan?" hörte die Silberlichte Freya rufen. Sofort wurde das Tor heruntergelassen und Tronje und Giliad kamen herausgerannt, eine Trage bestehend aus einem an zwei gleichlangen Ästen befestigten Fell in den Händen. Doch Horizon realisierte keines dieser Dinge, bis sie vor ihr die Trage ablegten.
" Ich-Ich wollte nicht..." stotterte Erik erschrocken und in diesem Moment erwachte die brünette Anführerin aus ihrer Starre.
Sie stand auf und starrte ihn auf eine Weise an, die Erik schärfer traf als es jede Pfeilspitze hätte tun können. Denn selbst die kleine Menge an Achtung, die sie ihm noch entgegen gebracht hatte, war mit dieser Tat endgültig verschwunden. "Hast du aber!" brüllte sie und schaute dann wieder mitleidig zu Marlon hinunter, der genuso gut hätte tot sein können. " Er hat dir nichts getan..." Sie wollte Ragnarök stürmen, Erik den Bogen entreißen und ihn ihm über den Kopf ziehen. Jaromir, der sich Marlons rechten Arm um den Hals legte, um ihn mit auf die Trage zu hieven, zischte: "Horizon..." Damit erinnerte er sie wieder daran, warum sie wirklich hier waren und deshalb hielt sie sich zurück.Erik machte kehrt und kletterte die Leiter, die vom Wehrgang hinab führte, hinunter, wobei er die letzten paar Sprossen übersprung. Es hatte ja doch keinen Zweck die Silberlichten aufhalten zu wollen.
" Du aber schon." murmelte er vor sich hin. Er hatte Marlon wirklich nicht treffen wollen. Das er die Bogensehne losgelassen hatte, war eine Reaktion aus purem Hass, schon fast ein Reflex gewesen. Doch was hätte es gebracht wenn er Horizon tatsächlich erwischt hätte? Hätte es dieses Gefühl in seinem Inneren gemildert?
Widerwillig beobachtete Erik wie acht verschleierte Gestalten auf Motorrädern durch den Toreingang fuhren, bis etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Die letzten beiden hielten zwei Zeltstangen in den Händen, zwischen denen ein weißes Tuch gespannt war, dass wahrscheinlich mal zum Zelt gehört hatte. Darauf lag ein Junge, der nur noch halb bei Bewusstsein zu sein schien. Er war schweißnass und trug am Unterarm einen bereits durchgebluteten Verband.
" Wie ist das passiert? " fragte Erik, niemand bestimmten.
" Willst du das wirklich wissen?" stellte Jaromir die Gegenfrage. Erik schaute auf. Sein Bruder war als letzter über die Schwelle getreten, hatte gezögert. Immerhin war das hier einst sein Zuhause gewesen und die Wölfe auf eine Weise wie seine Familie, bis er sich entschieden hatte sie zu verlassen.
" Es könnte alles, was ihr bisher zu wissen geglaubt habt, verändern. "
Einen Moment schaute Erik ihn einfach nur an, seine Kiefermuskeln spannten sich an und dann ging er auf Jaromir zu.
" Hör auf mit dem Geschwafel und sag mir was hier los ist. " Hätte er das nicht gefragt, dann hätte er vielleicht noch weiter sein Leben leben können. Vielleicht hätte er der Wahrheit nicht ins Auge schauen müssen...Zumindest für eine bestimmte Zeit.
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Wild enough to survive?
FanfictionWie eisige Finger, die einem die Kehle abschnüren und somit die Luft zum Atmen nehmen. So fühlt sich der Anführer der einstigen Fußballmannschaft jeden Morgen, wenn ihn die erschütternde Erkenntnis trifft, dass das früher so freie wilde Kerle Land v...