Kapitel I: Die Beratung

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Um 17.30 Uhr saß Vivienne noch immer, zusammen mit einer anderen jungen Frau und dessen kleinen Tochter, die erst im Kindergartenalter war, im Wartezimmer der katholischen Frauenberatungsstelle. Die Fenster waren mit Milchglasfolie vor neugierigen Blicken geschützt, die Tür war abgeschlossen. Wenn man innerhalb der Sprechzeiten kam, musste man die Türschelle betätigen, dann öffnete eine ehrenamtliche Mitarbeiterin, meist eine Studentin, und prüfte das Anliegen der an der Tür stehenden Person. Männer waren ausnahmslos unerwünscht. Das gab Vivienne Sicherheit. Nervös fuhr sie mit dem Fingernagel ihres Daumens unter den Fingernagel des Zeigefingers an der anderen Hand. Sie war erst 25 und bereits so gezeichnet, dass die Vorstellung noch weitere 25 Jahre und darüber hinaus leben zu müssen, sie verzweifeln ließen.

Ihre dunklen, fast schwarzen, ungewaschenen Haare, fielen ihr strähnig bis zu ihren Schultern. Ihr blasses Gesicht wirkte wie das einer Porzellanpuppe. An der Stirn trug sie eine Kompresse, die mit braunem Pflaster an der Haut fixiert war, um eine vor Kurzem genähte Platzwunde abzudecken. Ihre grau-blauen, leeren, müden Augen starrten an die ihr gegenüberliegende kalkfarbene Wand.

Trotz des voranschreitenden Kalenderblattes, herrschten draußen milde Temperaturen, die eher an eine Spätsommer Nacht erinnern ließen, als die eines Oktobers. Obwohl es so angenehm war und selbst die größte Frostbeule noch immer darauf warten musste endlich den Wintermantel aus der Kiste zu kramen, hatte sich Vivienne in einen dicken Norwegerpulli vermummt, mit Ärmeln in Überlänge, um ihre zahlreichen Hämatome, die ihren gesamten Körper marmorierten, zu verstecken. Sie trug einen Schal, den sie mehrfach um den Hals gewickelt hatte, einen schwarzen Cordrock, dazu eine blickdichte Wollstrumpfhose und kniehohe, flache Stiefel, die schon etwas abgenutzt aussahen. Einen dünnen dunkelblauen Anorak hatte sie über Ihre Knie gelegt.

Eine ruhige, wohlklingende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Frau Meise, sie sind die Nächste." Eine kleine, kräftige Frau mit gewachster Kurzhaarfrisur und sanften Blick forderte Vivienne auf, ihr zu folgen. Vivienne erhob sich aus dem Stuhl und folgte ihr in ein kleines mit Teppichboden ausgelegtes Zimmer. Sie zog das linke Bein etwas hinterher, was der Frau sofort auffiel.

Die Wände in dem kleinen Raum waren in einem unaufdringlichen, warmen Gelbton gestrichen, am Fenster stand ein Schreibtisch mit Drehstuhl, daneben ein Bücherregal in dem nicht nur eine große Auswahl an Fachbüchern zum Thema Psychologie, Selbsthilfe, Medizin und Soziologie zu finden war, sondern auch Prospektständer, in denen sich Flyer von unterschiedlichen Hilfsorganisationen, Vereinen und Kursen zum Mitnehmen anboten.

Vivienne nahm in einen der beiden tiefen, bordeaux roten Polstersessel platz. Neben ihr stand ein kleiner quadratischer Holztisch auf dem zwei bäuchige Wassergläser auf den Kopf gestellt waren, eine grüne Glasflasche auf dessen Etikett „Stilles Quellwasser" zu lesen war, stand und eine Box mit heuausziehbaren Taschentüchern mittig platziert worden war.

„Mein Name ist Brigitte Block und ich bin hier psychologische Beraterin. Ist es in Ordnung für sie wenn ich ihnen zuerst ein paar Fragen zu ihren Personalien stelle? Sie können aber auch anonym die Beratung in Anspruch nehmen."

Vivienne nickte bloß.

Brigitte Block stand auf und ging zum Schreibtisch, von dem sie ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber mit zu Vivienne herüber nahm. Dann setze sie sich ihr erneut gegenüber.

„Frau Meise, wie heißen sie mit Vornamen?"

„Viv" ihre Stimme brach bei dem Versuch ihren Namen auszusprechen. Seit Stunden hatte sie schon keinen Ton mehr von sich gegeben. Sie räusperte sich.

„Vivienne."

„In Ordnung, wo wohnen sie aktuell?"

„Bei meinen Eltern in der Drosselstraße 140."

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