Kapitel II: Der Erstkontakt

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Vivienne saß zwischen ihren Eltern wartend auf einer edlen camelfarbener Lederbank in der noblen Anwaltskanzlei. Alle drei starrten wortlos und sichtlich angespannt auf die überbreite, dunkelbraun lasierte Tür vor ihnen. Sie hielten jeweils eine kleine graue Tasse und eine Untertasse in ihren Händen. Die Eltern, beide wohlgenährte, kleine Personen mit ähnlichem Körperbau, er mit schütterem Haar, sie mit kurzen dunkelbraunen Locken, warfen sich gelegentlich unsichere Blicke zu, während Vivienne einfach nur da saß. Sie trug ein knielanges schwarzes Kleid mit weißem Bubikragen, darunter schwarze blickdichte Strumpfhosen und schwarze Schnürschuhe. Sie war dezent geschminkt, was aber ihre dunklen Augenringe nicht verdecken konnte. Sie erinnerte in ihrer Aufmachung an ein geschundenes Schneewittchen. Trotz ihres traurigen, leeren Blickes war sie schön, das war unbestreitbar.

Auch die Eltern hatten sich zurecht gemacht. Man ging ja schließlich nicht alle Tage zum Anwalt.

Der Vater trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug von der Silbernen Hochzeit von vor drei Jahren, mit grauer Krawatte aus Satin, die Mutter einen schwarzen Hosenrock mit schwarzer Bluse. Wenn man sie so zusammen sitzen sah, dachte man unvermeidlich an eine Trauergesellschaft während einer Beisetzungszeremonie. Das dachte auch Valentin Stein, als er schwungvoll aus der übergroßen Tür auf sie zukam. Er war ein großer Mann mit athletischer Figur, seine dunkelbraunen Haare hatte er zu einem leichten Seitenscheitel gekämmt, er trug einen gepflegten, kurzen Bart, der seinem jugendlichem Gesicht mehr Struktur gab. Er setzte ein professionelles Lächeln auf, das seine Grübchen zum Vorschein und seine tiefen grünen Augen zum leuchten brachten.

Unter seinem linken Arm klemmte eine schwarze Aktentasche aus Leder. Er trug einen hochwertigen, perfekt sitzenden, dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, dazu eine dunkelblaue Krawatte, in exakt dem gleichen Farbton zu seinem Anzug passend.

„Mein Name ist Stein und ich bin Anwalt!" stellte er sich selbstsicher vor.

Er reichte jedem einzelnen die Hand und nannte dabei jeweils den Namen.

„Frau Meise!"

„Frau Meise!"

„Herr....Meise, sonst noch wer?" witzelte er und lächelte, sodass er strahlend weiße Zähne entblößte. Vivienne schüttelte verneinend den Kopf. Herr und Frau Meise starrten ihn unberührt an.

„Nein, na schön, dann folgen sie mir!"

Schnellen Schrittes ging er den dunklen Flur entlang, sodass das Trio leicht außer Atem war als sie vor dem Büro ankamen.

Valentin Stein hielt Vivienne die Tür auf, die augenblicklich durchschritt. Er wandte sich zu den Eheleuten und teilte Ihnen mit, dass er aus Erfahrung wisse, dass der Gesprächsverlauf zielgerichteterer voranschreiten würde, wenn Betroffene und Anwalt unter vier Augen miteinander sprächen. Mit offenen Mündern stand das Ehepaar da. Der Vater sah der Tochter mit suchendem Blick in die Augen. Diese nickte. Daraufhin setzte sich auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand des Büros.

Vivienne bemerkte, dass sie noch immer die leere Kaffeetasse in der Hand hielt. Sie ging auf ihre Mutter zu, um sie ihr zu übereichen, doch die spähte noch immer ungläubig den Anwalt an.

„Mama..." forderte sie ihre Mutter leise auf, die sich ihr auch unverzüglich zuwandte. Sie nahm ihr die Tasse ab und setzte sich zu ihrem Ehemann.

„Wollen wir?"schlug Valentin Stein vor und machte eine Handbewegung, die sie auffordern ließ einzutreten.

Sie nahmen gegenüber voneinander Platz. Vivienne starrte wie immer, wenn sie sich verunsichert fühlte, auf ihre weißen Hände in ihrem Schoß.

Valentin beobachtete sie einen Momentlang, dabei umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen. Er öffnete die Aktentasche, die er zuvor auf den Tisch gelegt hatte und breitete nacheinander drei Blätter vor sich aus, die er schnell überflog.

„Frau Meise, sie kommen zu mir, weil sie sich von ihrem Ehemann verfolgt und bedroht fühlen. Ist das richtig?"

„Ja."

„Sie haben bereits eine Anzeige gegen ihn erstattet, diese aber zurückgezogen, richtig?"

„Falsch."

„Falsch?" fragte er verunsichert nach.

„Ja, falsch. Die Ermittlungen wurden eingestellt."

Skeptisch las er noch einmal genauer den Bericht in seinen Unterlagen nach.

„Tatsächlich." gab er überrascht zu. „Und was wollen sie dann von mir?"

„Ich will das sie mir helfen."

Er lachte kurz auf. „Gute Frau, wie stellen sie sich das vor? Ich habe keinerlei Grundlage für eine An...."

„Sie wurden mir empfohlen von Frau Block aus der Frauenberatungsstelle. Ich habe von diesem Fall von Judith Hoffmann gelesen. Sie haben sie doch damals verteidig oder?"

Valentin nickte, er lächelte sanft, legte beide Hände an den Hinterkopf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Na schön, dann erzählen sie mal."

Die sonst so scheue und verschlossene Vivienne erzählte ihm alles, was sie zwei Tage zuvor auch Brigitte Block bereits erzählt hatte. Sie berichtete in allen Details von der Fehlgeburt, den permanenten, gewaltsamen Auseinandersetzungen,den sexuellen Forderungen, denen sie unfreiwillig nachkam und dem Autounfall. Sie geriet in einen regelrechten Redefluss, denn sie wusste, diesmal ging es um etwas. Wenn sie wieder eine Chance auf ein normales Leben haben wollte, ein Leben das genauso war wie früher, bevor sie ihren Ehemann Lars kennen lernte, dann müsste sie diesem Mann alles erzählen.

Valentin hörte ihr aufmerksam zu. Normalerweise ließen ihn ausführliche Erzählungen emotional kalt. Unter all dem Wust emotionaler Ereignisse, versuchte er ganz objektiv die rechtlich relevanten Details herauszufiltern. Bei Vivienne gelang ihm das nicht. Wenn sie erzählte, blieb ihre Miene starr, auch ihre Erzählweise klang unterkühlt, fast schon emotionslos. Auf ihn wirkte sie irgendwie beängstigend, faszinierend aber dennoch beängstigend.

Etwas an diesem Mädchen, denn das war sie ja fast noch, fesselte ihn. Vielleicht war es ihre zerbrechliche Schönheit, vielleicht weckte ihr jugendliches Auftreten seinen Beschützerinstinkt, vielleicht fühlte er sich aber auch nur angespornt Zugang zu ihrem distanziertem Wesen zu erlangen. In jedem Fall war sie, und das wusste er mit Sicherheit, ein ziemlich gebrochenes Mädchen, dass keinerlei Aussicht hatte, eigenständig aus dieser Situation zu kommen.

Als ihre Worte verstummten und sie am Ende ihrer Erzählung angelangt war, lehnte Valentin sich nach vorne. Er legte seine Hände auf den langen Tisch und faltete sie andächtig, bevor er zu sprechen begann.

„Frau Meise, ich kann ihnen nicht viel Hoffnung machen. Das muss ich ihnen ausdrücklich vorab sagen. Dennoch nehme ich mich ihrem Fall an. Als nächstes werde ich, wenn sie mir die Erlaubnis dazu erteilen, Einsicht in ihre Krankenhausberichte beantragen. Außerdem werde ich versuchen herauszufinden, was genau ihr Mann bei der Polizei ausgesagt hat. Sind sie damit einverstanden."

Sie nickte.

„Gut, dann melde ich mich bei Ihnen, wenn ich etwas herausgefunden habe." Mit einer dynamischen Bewegung erhob er sich vom Stuhl und reichte ihr die Hand. Sie stand ebenfalls auf und erwiderte die Geste.

Länger als nötig, übte sie ihren Händedruck aus, was Valentin irritierte, dennoch entzog er ihr seine Hand nicht.

„Herr Stein, was schulde ich ihnen?" fragte sie vorsichtig. Daraufhin lächelte er sanft.

„Gar nichts, sie schulden mir gar nichts. Bei einem unverbindlichen Beratungsgespräch entstehen ihnen keine Kosten."versicherte er ihr.

„Und später?"

„Darüber sprechen wir wenn es so weit ist. Machen sie sich jetzt erstmal keine Gedanken."als er dies sagte zwinkerte er ihr zu, worauf sie zum ersten Mal mit einem ernst gemeinten Lächeln reagierte. 

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