Dunkelheit

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Die Wildblumen reichten mir nun bis zu den Waden. Umschmeichelten sie sanft, als sie sich im Wind der Leere wiegten.

"Sie sind gewachsen", stellte ich lächelnd fest und sah zu ihm auf.

"Ich hab dir ja gesagt. Dass die Zeit hier anders vergeht."

"Das heißt, diesmal verging sie hier schneller als bei mir?"

Und ich meinte hinter der Schicht aus grauen Schatten ein freudloses Lächeln zu sehen. Ein geisterhaftes Gespenst der Traurigkeit.

"Das Schicksal wollte wohl, dass ich dich vergesse..."

"Und, hast du mich vergessen?", erwiederte ich, während sich meine Mundwinkel nach oben zogen.

"Wie könnte ich jemanden, der so nervig und aufdringlich ist, wie du vergessen?!"

"Hey!"

Beleidigt holte ich mit meiner Faust aus und traf seine Schulter. Hauchzart, denn ich fürchtete immer noch, dass die Schatten bei der kleinsten Berührung zerfallen und wie Staub hinfortgeweht werden würden. Genau wie die Gestalt unter ihrer Hülle.

Doch zu meiner Erleichterung traf sie auf Haut unter der ich Knochen spürte. Und mich trotz meiner gespielten Beleidigung schwach grinsen ließ.

Wer auch immer er zu sein schien, er war durch und durch menschlich.

Doch dieser sorgenlose Augenblick hielt nur den besagten Wimpernschlag lang an. Dann hatte sich seine große, aber doch so grazile Hand um meine geschlossen und drückte sie von sich weg.

"Warum bist du hier?" Die Leichtigkeit war aus seiner Stimme verflogen. Jetzt schien sie so schwer, dass sie mich wie ein Stein in die Tiefe des Ozeans unter unseren Füßen zog.

"Weil ich es versprochen habe."

"Aber ich wünschte, du hättest dein Versprechen nicht gehalten."

Und da war sie wieder. Die Einsamkeit. Sein stilles Leid. Diese eine Emotion, mit der er mich bei unserer ersten Begegnung in seinen Bann gezogen hatte. Wegen der ich nicht aufgegeben hatte. Wegen der ich nicht aufgeben konnte. Wegen der ich wiederkommen musste.

"Warum?"

Wie ich dieses Wort liebte und gleichzeitig doch so sehr verabscheute. Denn es barg Wahrheiten, denen ich mich nicht verwehren konnte.

"Weil jedes Mal, wenn du dich versuchst umzubringen und hier her kommst ein Teil deiner Seele der Finsternis verfällt. Aber nur im reinen Licht wird dir ein langes Leben als Mensch gewährt, sowie ein angenehmes Dasein nach dem Tod."

Doch das ließ mich nur leise aufseufzen. "Was nützt mir ein langes Leben, wenn ich in ihm nicht glücklich werde? Das Licht ist viel zu einfach zu lieben. Deshalb möchte ich die Schatten kennenlernen."

"Aber es ist so einfach dabei der Finsternis zu verfallen."

"Aber als Tod bist du doch die personifizierte Finsternis, nicht wahr?"

"Für alle, die nach dem Leben streben, ja."

"Na dann verfalle ich ihr nur allzu gern!"

Und dann sah er mich einfach nur an. Ich wusste, dass sich seine Augen in meine bohrten. Ich spürte es. Und doch konnte ich meinen Blick nicht senken. Auch wenn ich sie nicht sah, hielten sie mich doch gefangen.

Gefangen in der Leere. Von der Zeit in Ketten gelegt.

Nur der nicht existierende Wind wagte es die Stille zu durchbrechen. Fuhr stumm heulend durch das Blumenmeer, dessen Stängel uns sanft umschmeichelten.

Geliebter Tod [LGBT] ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt