Früher bin ich oft auf die Bäume im Park bei uns in London geklettert. Immer bis ganz nach oben. So hoch, bis mich die Äste nicht mehr tragen konnten. Obwohl ich gerade einmal sechs war, hatte ich bereits genug Kraft um bis in die Baumkronen zu klettern. Oben angekommen staunte ich jedes Mal aufs Neue. Obwohl ich fast immer dasselbe sah, war es jedes Mal atemberaubend. Bis Mum bemerkte, dass ich weg war, mich dann im ganzen Park suchte und immer einen halben Herzinfarkt erlitt, wenn sie mich schließlich fand. Das tat mir immer furchtbar leid für sie. Aber trotzdem konnte ich das Klettern nicht lassen, es war einfach zu faszinierend. Der Stadtteil von London, in dem wir lebten, war nicht gerade für seine Schönheit bekannt. Es war schon ein Wunder, wenn man in den Häusersiedlungen ein Haus fand, das nicht mit Graffiti besprüht war. Oder der Müll ausnahmsweise mal in statt neben der Mülltonne lag. Trotzdem liebte ich es hier.
Fast jeden Tag ging Mum mit mir in den Park und jedes Mal entdeckte ich einen Baum, den ich offensichtlich noch nicht erklommen hatte. Mum hat es gehasst, dass sie mich fast jeden Tag aus einer der Baumkronen fischen musste. Das Problem war nämlich, dass ich mich nicht mehr traute herunter zu klettern. Schließlich verbot sie mir das Klettern irgendwann. Sie war bereits sehr geschwächt durch den bösartigen Knoten in ihrer Brust. Somit brachte sie nur selten genug Kraft auf, um zu mir herauf zu klettern. Die Ärzte hatten ihr noch drei Monate gegeben. Aber ich spürte bereits nach einem halben Monat wie sie die Kräfte verließen. Ich kam zu dem Entschluss, dass es ein Wunder wäre, wenn sie nach zwei Wochen noch bei mir wäre. Der Gedanke, sie womöglich irgendwann in ihrem Bett zu finden, tot, nicht mehr bei mir, brachte das Gerüst meiner kleinen, heilen Kinderwelt entgültig zum einstürzen. Dennoch zwang ich mich, es nicht vor Mum einzugestehen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Oder gar Vorwürfe, dazu neigte sie oft. Anfangs hatte sie sich große Mühe gegeben, ihre Krankheit vor mir zu verstecken. Aber ich bin nicht dumm, ich war es nie. Auch damals nicht.
Es fiel mit durchaus auf, dass sie jeden Morgen äußerst früh aufstand um das Haus zu verlassen. Sie sagte immer, sie müsse früher zur Arbeit. Am Anfang glaubte ich ihr das sogar. Monatlich zahlte sie einen Mietbetrag für die Wohnung in der wir lebten. Sie war nichts besonderes, eine kleine Vier-Zimmer-Wohnung. Aber uns reichte sie vollkommen.
Irgendwann, zwischen Ende Mai und Anfang Juni merkte unser Vermieter, dass ihm die monatlichen Einnahmen durch die Mieter nicht reichten. Er erfand also irgendeine Lüge, seine Mutter wäre krank und er wollte die Miete nur erhöhen um ihr die Therapie zu bezahlen. Dabei wusste jeder im Haus, dass seine Mutter bereits vor vier Jahren auf Sylt bei einem Schiffsunglück gestorben war. Was es wirklich bedeutet, eine todkranke Mutter zu haben, hatte er nie wirklich erfahren.
Ich hasste ihn dafür, dass er Mum nun auch noch das Geld für ihre Therapie aus der Tasche zog und sie damit zum Arbeiten verdammte.
Als Mum noch gesund gewesen war, hatte sie ihre Arbeit als Verkäuferin in einem kleinen Laden bei uns in der Straße geliebt. Sehr sogar. Um nichts in der Welt hätte sie ihn aufgegeben.
Doch nun, da unser Vermieter die Kosten für die Wohnungen erhöht hatte, wurde der Job für sie zur Qual. An den Wochenenden war sie meist den ganzen Samstag weg und kam jedes Mal mit ungeheuren Schmerzen nach Hause, die der Krebs verursachte. Es brach mir jedes Mal das Herz sie so zu sehen, niedergeschlagen, an der Schwelle zum Tod. Und nie wusste ich was ich tun sollte. Meistens rief ich Ms Orlet, Mums persönliche Pflegerin aus dem Krankenhaus, an, um sie zu bitten, sie möge sich um Mum kümmern. Ich war immer erleichtert, wenn die Frau mit den bereits grau werdenden Locken vor unserer Tür stand, ihren Koffer mit den Medikamenten unterm Arm. Sie war die einzige im Krankenhaus, der Mum wirklich vertraute. Ich konnte es an ihrem erleichterten Gesichtsausdruck sehen, wenn Ms Orlet ihr Schlafzimmer betrat. Aber obwohl sie sehr oft bei uns war, wusste ich doch sehr wenig über sie.
Ab und zu machte es mir Angst, die Gesundheit meiner Mutter einer Frau, die ich nicht kannte, anzuvertrauen. Doch im Gegensatz zu mir hatte eine
Das funktionierte eigentlich immer. Aber eines Tages, es war mein siebter Geburtstag, sagte Mum, es ginge ihr besser und sie hätte wieder genug Kraft, mit mir in den Park zu gehen. Auf der einen Seite war ich misstrauisch. Die letzten Wochen hatte sie nicht einmal das Bett verlassen. Auf der anderen Seite war ich in dieser Zeit kein einziges Mal draußen gewesen. Umso mehr freute ich mich.
Mum musste die Verunsicherung in meinem Blick jedoch bemerkt haben. Sie sah Ms Orlet, die an ihrem Bett stand an. Die nickte. "Ich werde euch begleiten, Jordan." Sie lächelte mich warm an. Etwas, dass sie oft tat, wenn sie meine Beunruhigung bemerkte. Ich lächelte zurück.
In den Wochen, in den sie nicht von Mums Seite gewichen war, hatte ich gelernt ihr zu vertrauen. Und es war ein gutes Gefühl Mum nun endgültig in sicheren Händen zu wissen.
Mum ging es an diesem Tag überraschend gut, wie ich bemerkte. Sie konnte aufrecht gehen, sie redete viel- sie lachte sogar. Über fast alles, was ich sagte. Insgeheim beunruhigte mich das. Als würde sie ahnen, dass sie sehr knapp davor stand, aus dem Leben zu scheiden. Als hätte sie lachen wollen, solange sie es noch konnte.
Ich sah sie an. Unsere Blicke trafen sich und plötzlich hörte sie auf zu lachen. Einfach so und sah mich nur mit diesem leeren Blick an. Als wäre ihr wieder eingefallen, wie krank sie war. Dann streckte sie überraschend die Arme aus und ich lief auf sie zu. Als ich mich in ihre Arme warf, war es als wäre es das allerletzte Mal, dass ich sie sah. Ich drückte mich eng an sie, sog den Duft ihres süßen Parfums ein, drückte sie noch fester. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass sie starb. Aber ich wusste: ich konnte es nicht. Was ich auch tat, es würde nichts bringen. Ich würde sie verlieren. Bald.
Mum versuchte sich von mir zu lösen. Aber nur um mich ansehen zu können. Mit ihrem wunderschönen graublauen Augen, die mich schon immer fasziniert hatten. Sie sah mich an, nahm meine Hand in ihre und strich mir behutsam über die Wange.
"Ich hab dich lieb.", flüsterte ich, während ich versuchte die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Mum lächelte. Sie sah so hübsch aus, wenn sie lächelte. Überhaupt war sie eine ausgesprochen schöne Frau.
Durch die Krankheit hatte sie zwar tiefe Schatten unter den Augen und einen kahl rasierten Kopf bekommen. Dennoch hatte sie für mich nie etwas von ihrer Schönheit verloren. Und sie würde nie etwas verlieren, da war ich mir ganz sicher.
Mum beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange. "Jordi, siehst du den Baum da vorne?" Sie nickte in Richtung einer riesigen Eiche. "Ich glaube den hast du noch nicht erklommen, oder?" Ich grinste.
"Nein, ich glaube nicht.", antwortete ich aufgeregt mit meiner hellen Kleinkinderstimme. Mum grinste ebenfalls. "Nah dann wird es höchste Zeit! Und danach erzählst du mir, wie das Viertel von oben aussieht, oder?"
Im ersten Moment war ich verwirrt. Normalerweise hasste sie es, wenn ich kletterte. Aber ich war zu aufgeregt und neugierig, um es zu hinterfragen. Also nickte ich. Mum lachte. Diesmal war ich mir sicher, dass es ein echtes Lachen war. Und sofort stimmte ich mit ein. Doch ich blieb ein wenig misstrauisch und beschloss Mum so gut ich konnte im Auge zu behalten. Während sie mich nach wie vor anlächelte, ging ich langsam auf den Baum zu. Aus Angst drehte ich mich alle zwei Schritte zu Mum um, die sich schwerfällig auf einer Parkbank niederließ. Ich blieb stehen und sah sie an.
Sie sah mit einem Mal wieder sehr erschöpft und schwach aus und ich befürchtete schon, sie würde im nächsten Moment umkippen. Aber als sie meinen Blick bemerkte, fing sie wieder an zu lächeln. Ms Orlet hatte sich mittlerweile neben sie gesetzt und nickte beruhigend in meine Richtung. "Zeig uns wie toll du klettern kannst, Jordi!", rief sie lächelnd. Ich war mir sicher: hätte Mum die Kraft gehabt, hätte sie dasselbe gerufen. Ich wäre am liebsten umgekehrt.
Aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich klettern musste. Ich musste es tun! Für Mum! Auch wenn ich es mir nicht erklären konnte, schien sie mit einem Mal froh über meine Liebe zum Klettern. Ich musterte Mum erneut, dann drehte ich mich um und rannte zu dem Baum. Er war viel höher, als ich erwartet hatte. Höher als die Bäume, auf die ich sonst geklettert war. Aber das machte nichts. Meine Augen glitzerten in freudiger Erregung und mit einem breiten Grinsen sah ich noch einmal zu Mum und Ms Orlet herüber.
Mum war aufgestanden, aber ich konnte sehen, dass sie sich an Ms Orlets Schulter abstützte. Jetzt lächelte sie wieder. Schwer zu erkennen, ob es echt war. Aber ich konnte nicht anders als zurückzulächeln. Außerdem wollte ich in diesem Moment auf gar keinen Fall, dass sie damit aufhörte.
"Los Jordi!", feuerte sie mich jubelnd an. Ich war überrascht, dass sie Kraft dazu hatte. Dass sie die Kraft hatte, überhaupt etwas zu sagen. Vielleicht hatte ich ihre Situation vorhin doch ein wenig schlimmer, als sie tatsächlich war, eingeschätzt. Jedenfalls zwang ich mich das zu glauben. Ich versuchte mich zu entspannen.
Dann kletterte ich unter Mums Anfeuerungsrufen so schnell ich konnte den Stamm der Eiche hinauf.
Es war schwerer als ich erwartet hatte. Der Stamm war noch feucht vom Regen der letzten Nacht. Aber ich versuchte das so gut es ging zu ignorieren und zog mich keuchend bis zu den ersten Ästen. Und als ich sie erreichte, klatschte Mum laut Beifall. Ich setzte mich auf den ersten Ast und sah sie an. Ihre Augen glänzten. So, wie sie es nur taten, wenn sie Stolz verspürte. Davon musste sie gerade eine ganze Menge verspüren und ich war froh, ihr dieses Gefühl gegeben zu haben.
Aber ich wollte mehr. Viel mehr. Ich wollte, dass Mum so stolz war wie noch nie. Und ich wusste, was ich dafür tun musste.
Ich schwang mich auf den nächsten Ast. Es war nicht weiter schwer gewesen, er befand sich sehr nah an dem Ast, auf dem ich eben noch gesessen hatte. Da Mum nicht protestierte, kletterte ich eilig weiter. Bis ich schließlich die Baumkrone erreicht hatte. Hier oben war es leichter zu klettern, die Blätter hatten die meisten Regentropfen abgefangen. Ich sog die Luft ein. Bei dem Geruch von Moos, vermischt mit dem des Regens, wurde mir ganz schwindlig und ich musste mich bemühen nicht abzustürzen. Ich setzte mich auf einen Ast, der weitgehend keine starken Verzweigungen aufzeigte. Er war eiskalt. Gar nicht wie die anderen. Doch ich kümmerte mich nicht weiter darum.
Stattdessen setzte ich mich auf einen Ast, der gerade so reichte, um Ms Orlet durch die Blätter zu sehen. Lachend winkte ich ihr zu und war überrascht, als sie nicht zurück winkte. Normalerweise tat sie das immer. Doch nun war es anders. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Ich klammerte mich mit meiner rechten Hand am Ast fest und schob mit der anderen die Blätter zur Seite, die Mum verdeckten. Es funktionierte nicht ganz und es hätte sicher besser geklappt, wenn ich beide Hände frei gehabt hätte. Aber ich schaffte es so gut, um einen Blick auf Mum erhaschen zu können.
Da war sie. Sie hatte aufgehört zu jubeln. Die Finger ihrer rechten Hand waren mit denen von Ms Orlet verschlungen. Das war alles was ich erkennen konnte. Aber es reichte mir nicht. Ich hatte zu viel Angst, etwas wichtiges nicht gesehen zu haben. Also suchte ich nach einem Ast, von dem ich Mum ganz sicher sehen konnte. Meine Augen huschten hin und her, auf der Suche nach der passenden Aussicht. Schließlich hatte ich einen Ast im Visier und wollte mich schon darauf zu bewegen.
Da hörte ich jemanden schluchzen. Eine weibliche, dünne Stimme, die in die Kälte hinein klagte. Und ohne Zweifel wusste ich, wer das war. Ohne Vorwarnung begann mein Herz zu rasen und Panik breitete sich in mir aus. Ich wusste nur eines: ich musste so schnell wie möglich von dem Baum runter und nachsehen, was los war. Schneller als beabsichtigt glitt ich von dem Ast herunter und versuchte den nächsten mit dem Fuß zu erreichen. Doch er war zu weit weg. Ich streckte mich so weit ich konnte, aber es half nichts. Ich musste versuchen, ob ich einen anderen erreichen konnte. Wieder sah ich mich gründlich um. Panisch jetzt. Ich musste nach unten- sofort!
Ich rief nach Mum, um ihr zu signalisieren, dass ich Hilfe brauchte. Wie immer eigentlich. Aber dann verstummte ich plötzlich. Einfach so. Langsam, ganz langsam zog ich mich ein Stück weiter nach rechts. In der Hoffnung, das Gestrüpp zu umklettern, machte ich weiter. So lange, bis ich Mum tatsächlich sehen konnte. Mit starrem Blick sah ich zu ihr und Ms Orlet hinüber.
Da war sie. Immer noch hielt Ms Orlet ihre Hand. Mum lächelte immer noch, zwar nur ganz leicht, aber sie lächelte. Sie lag, den Kopf auf Ms Orlets Schulter auf der Parkbank, die Augen geschlossen- als würde sie schlafen. Aber sie schlief nicht. Ganz bestimmt nicht. Unheimlich still lag sie da, wie eine Statue.
Und da passierte es. Ich verlor den Halt und stürzte hinab in die Tiefe. Es war der schlimmste Moment in meinem Leben. Der Moment in dem ich begriff, dass sie gegangen war.
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Die sterbenden Stimmen
FantasyArenor. Nach dem Krieg liegt das Land in Trümmern. Fast zwei drittel der ehemaligen Bevölkerung wurden ausgelöscht. Und für diejenigen, die überlebt haben, ist ein viel grausameres Schicksal bestimmt! Jordan ist 22 und bereits am absoluten Tiefpunk...