Kapitel 39

13 1 2
                                    

Für einen Moment war ich sprachlos. Ich starrte Lucas an, der weiter Sachen aus seinem Rucksack auspackte. Mein Gehirn war überfordert. Hatte er sich gerade dafür entschieden, bei mir zu bleiben? Also weiter mit mir zusammen weg zu laufen? Obwohl ich offiziell als gefährliche Irre galt?
"Nein.", sagte ich plötzlich. Doch Lucas reagierte nicht auf mich. Also sagte ich nochmal lauter nein. Da hob er den Kopf und sah mich an. Er sah gestresst aus und verärgert. "Was?", fragte er bissig.

"Nein. Ich... Danke, dass du mich anscheinend nicht verraten wirst, aber ich... ich muss jetzt alleine weiter machen. Wirklich ich bin dir unendlich dankbar, aber ich kann nicht zulassen, dass du auch in die Schusslinie gerätst."
"Aber das..."
"Nichts aber. Denk doch mal nach. Du studierst, du hast eine Familie die dich liebt, Freunde auf die du dich verlassen kannst und eine Freundin, die perfekt für dich ist. Dein Leben ist toll. Aber du zerstörst dir alles, wenn du jetzt mit kommst. Du unterstützt jemanden, der zur Fahndung ausgeschrieben ist, du machst dich strafbar. Bitte, geh nach Hause. Ich kann nicht zulassen, dass du dein Leben weg schmeißt, nur weil du ein Abenteuer erleben willst."

Lucas war inzwischen aufgestanden und sah mich an. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern. "Ich hänge da doch eh schon mit drin. Ich habe dir jetzt schon geholfen. Also, was solls..."
Ich ging einen Schritt auf ihn zu. "Das muss aber keiner wissen. Du sagst einfach, du wusstest es nicht. Du sagst einfach die Wahrheit."
"Ich soll sagen, dass ich einfach so mit einem Mädchen weg gefahren bin, obwohl die ganze Welt weiß, dass ich dieses Mädchen nie wirklich mochte? Das wird man mir nicht abkaufen."
"Dann... dann sagst du eben, dass ich dich gezwungen habe, mich zu begleiten."

"Warte... WAS?!"
"Ja, du... du sagst einfach, dass ich plötzlich vor deiner Tür stand und eine Waffe oder so was hatte und dich gezwungen habe mit mir zu kommen. Und dass ich einfach weg war, als du heute aufgewacht bist."
Lucas sah mich lange an. Er machte Anstalten, als wollte er auf mich zu gehen, doch er ließ es bleiben, als er bemerkte, dass ich mich von ihm weg drehte. "Fee... ich... ich kann das nicht sagen."

"Wieso nicht?", fragte ich tonlos. Langsam wurde mir übel, denn mir wurde klar, in was für einer beschissenen Situation ich mich befand. Nicht nur wegen der Fahndung, sondern weil ich bemerkte, dass ich Angst hatte, dass Lucas nicht mehr da sein würde. Dann wäre ich allein und natürlich hätte das auch seine Vorteile, aber ich wäre eben allein. Ganz allein. Und ich wusste, was geschehen würde, wenn ich allein war. Wenn ich niemand hatte der mich ablenkte.

"Ich weiß nicht... ich weiß, dass es für mich besser wäre. Aber was ist mit dir?"
Ich merkte wie meine Unterlippe mal wieder zu zittern begann, doch ich riss mich zusammen. "Ich komm schon klar."
"Aber ich kann dich nicht anschwärzen. Ich würde es mir niemals verzeihen können, wenn ich solche hässlichen Lügen über dich erzählen würde. Also werde ich es nicht tun. Und alles andere wird man mir nicht glauben. Ich hänge mit drin, verstehst du. Ich werde jetzt nicht mehr gehen. Ich kann jetzt nicht mehr gehen."
"Aber du würdest gerne...", sagte ich leise, jedoch laut genug das Lucas es noch hören konnte. Doch er antwortete nicht darauf, stattdessen ging er zu meinem Seesack, kniete sich davor und sah mich wartend an. Manchmal war keine Antwort auch eine Antwort.

Ich setzte mich neben ihn und fing an ein paar Klamotten aus meinem Rucksack zu hieven. Es würde nicht lange reichen, aber wozu gab es Waschsalons? Dann holte ich noch meinen Geldbeutel hervor, öffnete ihn und betrachtete meine kleine Sammlung an Kundenkarten. Eine von "DM", eine von "AEZ" und eine andere von "Edeka". Außerdem waren da noch zwei Karten um Bücher in der Stadtbibliothek aus zu leihen, meine Krankenkassenkarte, meine Kreditkarte und natürlich mein Personalausweis. Eine nach der anderen zog ich sie aus den dafür vorgesehenen Fächern, betrachtete sie ein letztes Mal und zerbrach sie dann. Das Bild auf meinem Ausweis zeigte mich mit meinen ehemaligen Haaren und Sommersprossen auf der Nase. Es war schon alt, er wäre wahrscheinlich sowieso bald ausgelaufen. Es war ein komisches Gefühl, die eigene "Erkennungskarte" zu zerbrechen, irgendwie beklemmend, aber gleichzeitig fühlte ich mich plötzlich auch unglaublich frei. Meinen Geldbeutel würde ich noch mitnehmen, wegen den Bar-Geld und weil er mir wichtig war. Einer der wenigen Gegenstände, der mich an früher erinnerte. Also ganz früher. Damals, als ich noch glücklich gewesen war.

"Wir sollten uns bei Christa und Liselotte entschuldigen, meinst du nicht?", fragte ich plötzlich, als wir abmarschbereit im Flur standen.
Lucas lachte ein humorloses Lachen. "Und wie? Willst du sie aufwecken und ihnen mal eben so sagen, dass in ganz Deutschland nach dir gefahndet wird?"
"Nein... ich dachte eher an sowas wie einen Brief?"
Lucas sah mich für ein paar Sekunden prüfend an. Irgendetwas war komisch zwischen uns. Vor ein paar Stunden hatten wir noch lachend neben einander eine Straße entlang schlendern können und jetzt? Jetzt konnten wir nicht mal in fünf Metern Entfernung von einander stehen, ohne dass es sich komisch anfühlte. Und wir konnten uns nicht länger als ein paar Sekunden ansehen, ohne dass der eine oder der andere den Blick abwand.

"Mach schnell.", sagte Lucas kalt, dann schulterte er seinen Rucksack und ging Richtung Haustür. Ich sah ihm einen Moment lang nach. Diese Kälte, die bei jedem an mich gerichteten Wort in seiner Stimme lag, spiegelte sich auch in seinem Blick. Und sie erschütterte mich jedes Mal wieder.
Doch ich beschloss mir darüber später den Kopf weiter zu zerbrechen. Stattdessen ging ich in die Küche und fing an in den Schubladen des großen Küchenschranks nach einem Stift und einem Zettel zu suchen. Ich wurde auch schnell fündig und kritzelte eilig ein paar Zeilen.

"Liebe Christa, liebe Liselotte, 
es tut uns wahnsinnig Leid, dass  wir uns nicht mehr persönlich von euch verabschieden konnten, doch ich bin mir sicher, ihr könnt euch denken wieso.
Es ist unglaublich, wie gastfreundlich und herzlich ihr zu uns ward. Ihr habt uns einzigartige Erlebnisse und Erfahrungen geschenkt. Ich weiß nicht, wie wir uns je dafür revanchieren können.
Ich weiß, ihr werdet schockiert sein, wenn ihr hören werdet, was über mich erzählt wird und ich kann euch keinen Vorwurf machen. Ich bitte euch nur, nicht blind alles zu glauben, was erzählt wird, egal wie plausibel es klingt. Vertraut weiterhin auf eure Menschenkenntnis und euer Bauchgefühl.
Ich hoffe, dass wir uns irgendwann sehen und ich bete für Gustav.
Es tut mir unendlich leid.
Feline Schwarz
"

Ich legte den Zettel gut sichtbar auf den Küchentisch, dann ging ich in den Flur, zog meine Stiefel an und folgte Lucas hinaus in die dunkle Nacht. Auf der Türschwelle sah ich mich ein letztes Mal um. Spürte das letzte Mal die vertraute Wärme eines Hauses auf der Haut. Wie lange würde ich diese Wärme jetzt wohl nicht mehr zu spüren bekommen?
Dann zog ich die schwere Haustür ins Schloss.

Ein Blick in den HimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt