Kapitel 46

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Linda.
So hieß sie also. Aha.
"Sie ist noch nicht lange bei dieser Hippiegemeinschaft dabei. Eigentlich erst seit 8 Tagen. Sie wollte von Rotterdam nach München, weil sie beruflich in Holland war, doch dann hat sie dort nur erfahren, dass sie ihren Job verlieren wird. Da sie von diesen "Hurensöhnen bestimmt nichts mehr annimmt", hat sie beschlossen zu trampen und zack, war der Hippiebus da. Und sie hat sich so wohl und befreit gefühlt, dass sie beschlossen hat, hier zu bleiben. Zumindest für eine Weile."
"Aha.", sagte ich nur und zupfte mein Stockbrot von dem Ast.

"Ihr redet über mich?", zwitscherte plötzlich eine viel zu hohe Stimme hinter uns. Ich zuckte zusammen und noch bevor ich mich umgedreht hatte, wusste ich, wer dort hinter mir stand. Lucas lachte kurz, sah zu Linda hoch und griff sich in den Nacken. Er griff sich in den Nacken??? "Ähm... ich hab Fe... Lina nur gerade erzählt, wie es dazu kam, dass du hier bist.", antwortete er ihr. Sie nickte, grinste wissend und wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als Lucas sich räusperte und schnell sagte: "Willst du dich nicht zu uns setzen?"
Linda warf mir einen Blick zu, dann sagte sie: "Ich glaube, ich störe euch nur."
Da hatte sie verdammt recht.

"Ach quatsch!", sagte Lucas und lachte wieder, "sie stört doch nicht, oder Lina?"
Doch tat sie.
"Nein, Blödsinn.", ich winkte ab, dann klopfte ich sogar noch mit der Hand zwischen uns auf den Boden.
Ohne lang zu überlegen, ließ Linda sich zwischen uns sinken, legte uns beiden eine Hand auf die Schulter und grinste. "Von dir hat man heute im Bus ja nicht so viel mitbekommen.", sagte sie und strahlte mich an. In ihren Augen lag ein verklärter Blick, doch sie funkelten dennoch irgendwie... wild. "Du bist wohl nicht so der Mensch, der aus sich raus geht, oder? Aber hey, das denkt man immer nur. Ich hab das bis vor einer Woche von mir selbst auch noch gedacht und jetzt sie mich an!" Mit diesen Worten griff sie nach dem Saum von ihrem T-Shirt und zog es sich kurzerhand über den Kopf. Oben Ohne saß sie jetzt zwischen uns und ihre langen, dunkelbraunen Haare bedeckten sie nur notdürftig.
"Ääähm...", stammelte ich nur, dann fiel mir Lucas Blick auf. Als hätte er noch nie eine weibliche Brust gesehen, starrte er auf Lindas. Am liebsten hätte ich ihm mit der Hand vor den Augen rum gefuchtelte, damit er da nicht so hin starrte, das war ja peinlich. Doch Linda, die meinem Blick gefolgt war, grinste nur noch breiter. Dann schüttelte sie sich kurz, sodass ihre Haare nichts mehr versteckten. Mir blieb der Mund offen stehen.
Bitch.

"Wenn du das mit, aus mir rausgehen meinst, dann nein. Das mache ich wohl nicht. Aber ich habe es halt auch einfach nicht so nötig wie du." Mit diesen Worten stand ich auf und ließ Lucas mit Lindas Brüsten allein.

Unschlüssig sah ich mich um. Alle hatten irgendetwas zu tun, also setzte ich mich zu Bram, doch der beachtete mich erst nach 10 Minuten. Er warf mir einen kurzen Blick zu, dann fragte er in gebrochenem Deutsch: "Du bleiben hier?" Er warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu.
Ich lächelte. "Für heute Abend, ja.", antwortete ich.
Brams Blick wurde traurig. "Nur?", fragte er dann und sah wieder ins Feuer.
Ich antwortete nicht, sondern starrte an die gleiche Stelle wie er. Er trug immer noch kein Oberteil, nur diese unzähligen Ketten um den Hals.

"Woran denkst du?", fragte ich irgendwann leise. Bram drehte langsam den Kopf in meine Richtung und sah mich lange mit diesem bekifften Blick an. "Du... nicht verstehen.", sagte er dann und wandte sich wieder von mir ab.
Ich wollte nicht nachbohren, also sagte ich nur: "Okay, klar. Es gibt bestimmt viel, was ich nicht verstehe. Und es gibt so viel worüber es sich lohnt nachzudenken. Zum Beispiel, was wir Menschen tun können, damit es keinen Krieg mehr auf der Welt gibt. Meinst du wir können irgendwas tun? Alleine bestimmt nicht. Wir müssen zusammen arbeiten. Alle eine Einheit bilden. Und das können wir schaffen, wenn wir einfach alle nach dem Gebot der Nächstenliebe leben würden. Ich bin nicht gläubig, nicht mehr. Ich glaube nicht, dass es sowas wie einen Gott gibt, aber manche Ansätze, die in der Bibel stehen, sind gar nicht so schlecht. Wenn jeder Mensch, jeden anderen Menschen, egal ob klein, groß, dick, dünn, schön, hässlich, schwarz, weiß oder orange, bekannt oder unbekannt, lieben würde, dann würde das alles nicht so laufen wie es immer und immer wieder läuft. Nicht wahr?" Meine Stimme brach.
Was redete ich da? Oh Gott, war in dem Stockbrotteig Gras gewesen? Schnell sah ich mich um, ob sich irgendetwas in meiner Wahrnehmung verändert hatte, doch es war alles beim Alten. Ich erschrak, als Brams Gesicht plötzlich nur Millimeter von meinem auftauchte.  Er flüsterte: "Ich stellen mir vor... ich denken an diese Welt. Ohne Krieg. Dort leben ich. Weil Krieg das Schlimmste sein, was die Welt erleben. Jemals."
Oh ja, er hatte ja so Recht. Krieg war das Schlimmste. Nur meinte er einen Krieg zwischen mehreren Völkern und Nationen. Ich jedoch, meinte einen Krieg zwischen nur zwei Menschen.

Plötzlich wurden wir aus unserem Gespräch gerissen, als Lucas neben uns das Gitarrespielen anfing. Die Melodie klang fröhlich und er spielte so unglaublich gut, dass man gar nicht anders konnte, als sich zu bewegen. Das merkten die Hippies anscheinend auch, denn plötzlich sprangen sie auf und fingen an im Kreis um das Feuer zu tanzen. Sie johlten, klatschten und sangen. Auf einmal griffen Hände nach meinen Armen, zogen mich auf die Füße und dann tanzte ich auch. Ja, ich tanzte mit lauter bekifften Hippies um ein Lagerfeuer und ich hatte Spaß. Niemals hätte ich das hier zu träumen gewagt und doch geschah es gerade wirklich. Mir war egal, wie lächerlich ich aussehen musste, in meiner Jogginghose und der Sweatshirtjacke. Das Lachen brach aus mir hinaus und für einen kurzen Moment, war ich seit Langem das erste Mal wieder glücklich.

Doch nicht lange. Denn da fiel mir Lucas Blick auf. Er war auf Linda geheftet, die sich mit wehenden Haaren im Kreis drehte, sich ihr Oberteil immer noch nicht wieder angezogen hatte und über das ganze Gesicht lachte. Sie ging hinter ihm in die Hocke und schlang ihm die Arme um den Hals, wie sie es im Bus auch schon gemacht hatte. Dann fing sie auf einmal an, seine Hals zu küssen und er lachte leise.
Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Wieso tat es weh, ihn mit Linda zu sehen? Es konnte mir doch egal sein? Sollte er doch Spaß haben und rum machen, mit wem er wollte.
Ich runzelte die Stirn. Mir war, als würde ich nur noch sein Lachen hören, alle anderen Geräusche, das Prasseln des Feuers, das Singen der Hippies und die Gitarrenmusik, nichts nahm ich mehr wahr.
Nur dieses Lachen.
Und plötzlich lachte ich auch, ganz laut.
Doch es war ein freudloses Lachen.
Es war bitter und traurig. Und laut.
Zu laut.

Lucas hörte auf Gitarre zu spielen und auch die Hippies warfen mir Blicke zu, als wären sie sich nicht ganz sicher, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte. Ich verstummte. Lucas sah mich mit gerunzelter Stirn an, dann erhob er sich langsam und ich ahnte, was er vor hatte. Er würde zu mir kommen und wissen wollen, was los war, doch das wusste ich doch selbst nicht. Wie sollte ich ihm irgendetwas erklären, wenn ich auch keine Ahnung hatte? Also fragte ich unbeholfen: "Was machst du da? Willst du nicht weiter spielen?"
Lucas hielt mitten in der Bewegung inne und betrachtete mich. Dann ging er auf Jurian zu und drückte ihm die Gitarre in die Hand. Dieser fing auch gleich an darauf zu spielen. Er spielte lang nicht so gut wie Lucas, doch für die Hippies reichte es, um erneut um das Feuer zu tanzen.

Mit schnellen Schritten kam Lucas auf mich zu, als hätte er Angst, ich könnte weg laufen.
Und er hatte Recht. Denn ich drehte mich um und rannte davon.

Ein Blick in den HimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt