Die Jungfrau-Frau

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Unter den im Zeichen der Jungfrau geborenen Frauen gibt es mehr unverheiratete als in jedem andern. Das liegt daran, daß sie selten einen Mann finden, der ihren Maßstäben entspricht.
Die Jungfrau neigt dazu, die Menschen oberflächlich zu beurteilen, das heißt danach, ob sie adrett, appetitlich und sauber sind. Infolgedessen geht sie oft an wertvollen Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts vorbei.

Wenn man sie verstehen will, darf man sie nicht als einen kalten Verstandesmenschen betrachten, sondern muß sie als eine Frau mit großer Selbstbeherrschung ansehen. Ihre Gemütsbewegungen sind die gleichen wie die anderer Frauen, aber sie zügelt sie mehr. Ihre geheimen Sehnsüchte bleiben meistens auch geheim.
Sie neigt zu Ernsthaftigkeit und Würde. Bescheidenheit ist ihr von Natur gegeben, und man wird sie selten dabei ertappen, daß sie sich mit ihren Leistungen brüstet. Sie hat ausgezeichnete Manieren und benimmt sich immer damenhaft, außer wenn sie herausgefordert wird. In ihren Augen ist man eine Dame, wenn man nie einen Menschen beleidigt, es sei denn, absichtlich. In diesem Fall muß man sich vor ihr hüten. Ja, am besten geht man in Deckung. Denn sie kann mit Worten angreifen, die sogar den Stärksten in die Knie zwingen.

Sie hält viel von Selbstverbesserung und Weiterbildung und bemüht sich sehr, sich selbst und ihre Lebensstellung zu verbessern. Besonders interessiert sie sich für Literatur, Musik und Malerei, und viele Jungfraugeborene entwickeln ein treffendes und scharfsichtiges Talent als Kritikerin.

Sie macht sich allzu viele Sorgen. Das rührt teilweise daher, daß sie überzeugt ist, verstandesmäßig fast jedes Problem lösen zu können. Sie vertraut ihrem Intellekt mehr als ihrer Intuition, und wenn sie vor einem Problem steht, kaut sie daran herum wie ein Hund an einem Fleischknochen, bis die Form deutlich sichtbar zutage tritt.

Sie kann großzügig, geduldig und gütig sein; aber sie ist auch sehr entschieden - ein kühles Wesen, dessen Kopf das Herz beherrscht. Wenn sie einen bestimmten Weg verfolgt, kann nicht einmal ein Hammerschlag auf den Kopf sie davon abbringen.

Ihre Tatkraft würde für zwei bis drei ausreichen, und sie nimmt jede Aufgabe mit der Überzeugung in Angriff, daß niemand sie so gut bewältigen kann wie sie selbst. Bei jeder Unternehmung ergreift sie alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen gegen einen Mißerfolg. Wie ein Trapezkünstler, der ohne Netz arbeitet, muß sie genau wissen, wo das andere Trapez auf sie wartet, wenn sie zu ihrem dreifachen Salto durch die Luft startet.

Ihr Reich ist das Heim. Hier regiert sie, und ein kluger Mann wird sie gewähren lassen. Ihre Wohnung sieht aus, als lebte niemand darin. Jedes Ding muß an seinem Platz sein, und jedes hat seinen vorgeschriebenen Platz. Als kluge Konsumentin kann sie ein Geldstück strecken, bis es quietscht.
Sie weiß, was ein Mann begehrt. Wenn er es nicht selbst erkennt, wird sie ihm bei der Analyse der Lage helfen. Aufs Analysieren versteht sie sich. Sie verfolgt mit der richtigen Entschlossenheit und dem richtigen Tempo praktische, erreichbare Ziele.

Wenn sie heiratet, dann gewöhnlich spät im Leben. Sie wird eine perfekte Hausfrau sein, eine vortreffliche Mutter (obwohl vielleicht ein bißchen zu streng) und ihrem Mann eine interessante Gefährtin. Sex ist für sie eher eine Sache der Fortpflanzung als des Vergnügens, und das kann sich frustrierend auswirken, denn im allgemeinen ist sie hübsch und behält ihr gutes Aussehen bis weit in die mittleren Jahre.

Sie gibt gern kleine Einladungen, bei denen alles bis ins kleinste tadellos klappt. Leute mit schlechten Tischmanieren, nachlässig Angezogene, Fleckenmacher und Aschestreuer werden von ihr kein zweites Mal eingeladen. Bei intellektuellen Gesellschaftsspielen tut sie sich hervor.

Im Beruf wirkt sich ihre Genauigkeit ebenso aus wie zu Hause. Sie kann gut rechnen, und sie ist die beste Buchhalterin, die man sich vorstellen kann. Sie ist auch eine glänzende Privatsekretärin, besonders wenn die Branche ihrer Vorliebe für die eigene Fortentwicklung entgegenkommt. In jeder Stellung fordert sie einen Lohn, der ihr Unabhängigkeit sichert. Bei einer wirklich schwierigen Wahl wird sie allerdings Unterbezahlung in Kauf nehmen, wenn sie gerecht, freundlich und rücksichtsvoll behandelt wird.

So objektiv und nüchtern sie auch zu urteilen vermag, in einem Punkt läßt sie sich blauen Dunst vormachen - nämlich wenn es sich um ihren Geliebten handelt. Seine Fehler und Schwächen sieht sie nicht. Sie bleibt dem Idealbild, das sie sich von ihm gemacht hat treu, und ihre Gefühle wurzeln tief, auch wenn sie nicht offen gezeigt werden.

Sie behandelt den Mann gern, als ob er gewissermaßen jungfräuliches Land wäre, das erforscht, überwacht, entwickelt und verbessert werden muß. Sie kennt sich in der Psyche des Mannes aus, denn sie hat ein beinahe übersinnliches Wahrnehmungsvermögen für Motivationen, und gewöhnlich ist sie zum Schluß die Herrin über alles, was sie überwacht.

Sie erwartet von jedem, ebenso sauber und ordentlich wie sie selbst zu sein. Auf sie hätte der Zauber des gefeierten Dr. Samuel Johnson nicht gewirkt, der einmal bei Tisch neben einer parfümierten, eleganten Dame saß. "Herr Doktor Johnson, sie riechen", bemerkte die Dame. Samuel Johnson, der Verfasser des ersten englischen Lexikons, nahm es mit Wörtern sehr genau; er antwortete: "Nein, Gnädigste, Sie riechen. Ich stinke." Wenn die Dame zu den Jungfraugeborenen zählte, hat sie das sicher nicht amüsiert. Aber man kann darauf wetten, daß sie eine wirkliche Dame war.

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