Noch 121 Tage

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Niemand auf der ganzen weiten Welt konnte so furchtbar zusammenhangslos reden wie Mrs. Evers. Da war ich mir sicher. Und es war eine recht traurige Tatsache, wenn man bedachte, das sie Geschichtslehrerin war. Die arme Frau hatte offensichtlich eine falsche Jobwahl getroffen. Und das tat mir fast ein wenig leid. Ich persönlich hätte ihr ja etwas vorgeschlagen, das nicht die Kunst des Redens verlangte. Pantomime zum Beispiel. Oder irgendeine Arbeit am Fließband. Vielleicht wäre sie mal ganz groß rausgekommen als professionelle Airbag-Monteurin. Das war, soweit ich wusste, eine Tätigkeit, die Maschinen noch nicht übernommen hatten. Klar. Der Sicherheit wegen. Das ließe sich von einschlägig bekannten Automobilherstellern sonst ja auch nicht verantworten. Schraube rechts, Schraube links. Da war der Mensch der Maschine halt doch noch überlegen.

Ich grinste ein bisschen in mich hinein.

Währenddessen versuchte Mrs. Evers vergeblich uns die Geschichte des Russichen Imperiums nahezubringen. Dabei erbrach sie überdurchschnittlich viele Alsos und schien mit jedem weiteren unfertigen Satz mehr zu schwitzen.

Das Schicksal meinte es einfach nicht gut mit ihr. Da hatte der liebe Gott sie nicht nur mit einer sprachlichen Dysfunktion, sondern auch mit einer sehr nervösen Schilddrüse gestraft. Mrs. Evers war eine dieser Lehrerinnen, über die nicht nur ihre Schüler, sondern auch ihre Kollegen lästerten. Na gut, abgesehen von unserem Chemielehrer, Mr. Evers, vielleicht. Der hatte sie schließlich geheiratet.

Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände und blickte mich im Zimmer um. Fast niemand schien mehr dem Unterricht zu folgen. Logisch. Es war der letzte Block vor dem Mittagessen, und ein Blick auf die Uhr kündigte nur noch wenige Minuten an, die wir in Mrs. Evers Fängen verharren mussten. Ich starrte zu Jaw-Long hinüber.

Er hatte sich so tief über seinen Block gebeugt, das seine Nasenspitze fast das Papier berührte, und schrieb. Er schrieb tatsächlich mit. Mrs.Evers fragmentierter Wortbrei wurde feinsäuberlich protokolliert. Man hatte ja sonst nichts Besseres zu tun. Ich konnte über solch ein Verhalten nur den Kopf schütteln. Jaw-Longs elitäre Eltern hatten eben doch mehr Einfluss auf ihn, als er zugeben wollte. Oder es lag an den Genen.

Der dürre Chinese hatte ja kaum eine Chance gehabt.

Ich beobachtete ihn zweifelnd, wie er so dasaß und den Stift nicht einmal vom Blatt abzusetzen schien. Es war manchmal schwer vorstellbar, dass ausgerechnet er sich zu meinem besten Freund etabliert hatte. Gleichzeitig wusste ich, dass es niemals jemand anderes so nah an mich rangeschafft hätte.


Ich wurde in dem Glauben erzogen, das die Welt ein böser Ort ist. Mit bösen Menschen, die böse Dinge tun. Menschen, die Babyrobben töten und ihnen das Fell abziehen. Oder keine Schokoriegel mit Gütesiegel kaufen. Prinzipiell waren schon im Kindergarten alle meine Freunde heranwachsende Monster, weil sie mit Matchboxautos spielten und nicht mit pädagogisch wertvollen Bauklötzen, aus unbehandeltem Kieferholz. Darum durfte ich besagte Freunde auch nie mit nach Hause bringen. Der einzige Spielgefährte, den sie mir irgendwann erlaubten, war Jaw-Long. Unsere Mütter gingen in denselben Yogakurs. Außerdem kauften sie im gleichen Bioladen ein. Er hatte ein Pflaster über dem linken Auge, weil er schielte. Außerdem war er zu groß für sein Alter, und zu dünn für seine Größe. Ein hagerer Asiate, der schon in der Grundschule alle anderen Kinder überragte. Ich stellte bald fest, das Jaw-Long im Haus vegane Jesusschlappen tragen musste. Genau wie ich. Und das verband irgendwie. Die Bürde von Helikoptereltern war der biologisch abbaubare Kleber, der uns zusammenhielt. Es dauerte nicht lang und wir wurden beste Freunde. Ich wusste bereits nach wenigen Wochen alles über ihn. Jaw-Long hasste den Violinenunterricht, zudem seine Eltern ihn schleppten und er hasste Blattspinat. Er hasste Minusgrade, Socken aus Schafswolle und die Art, wie sein Vater Auto fhur. Er hasste Mathe. Und er hasste seine Eltern, weil sie ihn jedes Jahr im Mathecamp anmeldeten. Für einen 10 Jährigen waren das ungesund viele Dinge zum hassen. Ich fand das schon damals sehr symphatisch.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 13, 2017 ⏰

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